© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Geschichte ist nur im Museum. Im Bezirksmuseum Berlin-Pankow diskutieren Freya Klier, Roland Jahn und Siegbert Schefke über den Herbst 1989. Der aus Eberswalde stammende Journalist Schefke hatte zusammen mit Aram Radomski am 9. Oktober vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig heimlich die Demonstration gefilmt, den „Tag der Entscheidung – für Leipzig, Deutschland, Europa“. Darunter geht es offenbar nicht. Die Bilder davon waren am Folgetag in den ARD-„Tagesthemen“ zu sehen und hatten das eigentliche Ende der DDR-Diktatur besiegelt, zeigten sie doch, daß die Macht auf der Straße jetzt dem Volk gehörte, das mit dieser Regierung nichts mehr zu tun haben wollte, und daß der Sicherheitsapparat den Schwanz einzog. Es war die faktische Kapitulation des Arbeiter-und-Bauernstaates.

Ich selbst war auch an jenem Tag nach Leipzig gefahren, wenige Wochen vor dem „Ehrendienst“ bei der Nationalen Volksarmee, nachdem ich in Budapest den Bus in den Westen dreimal hintereinander abgelehnt hatte – ich wollte ja, und das traute ich mich dort nicht zu sagen, zurück „in meine Geschichte“. Und da war sie, mit dem „Live-Erlebnis“ eines messianischen Moments: Als ich dann die Masse der bis zu 130.000 Menschen den Leipziger Ring entlanglaufen sah, war es „der Zug von Millionen“, der „endlos aus Nächtigem quillt“. Wurde das Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ aber auch wirklich gesungen? Oder war das nur in meinem Kopf? Und wie war es an der „Runden Ecke“, dem Sitz der Staatssicherheit, vor der brennende Kerzen eine Schutzzone bildeten. Rief die Menge: „Auf die Straße, reiht euch ein!“ – oder ist dies ebenso nur Einbildung?

Auch die Geschichte von der Grenzöffnung auf der Bornholmer Straße hat mehrere Varianten. Siegbert Schefke – der die DDR seit 1985 nicht mehr verlassen durfte, die Behörden hatten ihm sogar Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ weggenommen – erzählt so eine: Als ihm die DDR-Polizei bei einem Verhör 1988 plötzlich einen Reisepaß mit seinem Paßbild vorlegt und ihm die sofortige Ausreise in den Westen nahelegt („unten stand schon der fahrbereite Lada für mich“), habe er sich entschieden: „Es ist auch meine Heimat – nicht nur eure.“ Tatsächlich, erinnert sich Schefke, sei er am frühen Abend des 9. November – noch vor der dramatischen Zuspitzung mit der andrängenden Menschenmasse – auf der Bösebrücke zwischen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen unbehelligt mit einem Dutzend anderer Leute in den Westen gelangt, ohne jede Paßkontrolle.

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