© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Züge kapern und Lkws entern
Illegale Migration: In der französischen Hafenstadt Calais versuchen Tausende Zuwanderer nach England zu kommen / Bevölkerung fühlt sich belagert
Friedrich-Thorsten Müller

Es gibt drei Orte in der EU, an denen sich seit Jahren das häßliche Gesicht der neuen Völkerwanderung besonders plakativ zeigt. Neben Lampedusa und den mit teilweise sechs Meter hohen Zäunen umgebenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, ist es die nordfranzösische Stadt Calais.

Über die Hafenstadt wird ein großer Teil des Waren- und Personenverkehrs zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa abgewickelt. Sie ist nicht nur per Fähre, sondern seit November 1994 auch durch den Eurotunnel mit dem britischen Dover verbunden. Seitdem versuchen illegale Einwanderer aus Afrika oder dem Nahen Osten über dieses Nadelöhr auf die britischen Inseln einzureisen. Denn während die illegale Einreise per Boot aus Nordafrika nach Kontinentaleuropa relativ einfach ist, sind die Briten durch ihre Insellage im Norden Europas geschützt.

Illegale spielen mit der Polizei Katz und Maus

Bereits 2002 eskalierten die Verhältnisse in Calais, was zur Schließung des damaligen Auffanglagers Sangatte durch den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy führte. Seitdem hatte sich die Lage über einen längeren Zeitraum entspannt, wobei sich aber weiterhin ständig Hunderte illegale Einwanderer in der 75.000-Einwohner-Stadt aufhielten, um nach Großbritannien zu gelangen.

In den vergangenen Monaten ist die Situation nun wieder eskaliert und die Zahl der Transitflüchtlinge dort auf wohl über 2.500 gestiegen. Dies liegt zum einen daran, daß die Europäer unter dem Eindruck großer Schiffskatastrophen mit nichtseetüchtigen Booten immer mehr Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten. Hinzu kommt aber auch, daß Italien EU-vertragswidrig Asylbewerber in großem Stil nach Norden weiterleitet und Großbritannien durch die Sprache und großzügige Sozialleistungen – oder bereits dort lebende Verwandte und Freunde – als interessantes Einwanderungsziel gilt.

Teilweise zu Hunderten campieren die Einwanderer darum in Calais in nach Herkunft getrennten illegalen Zeltstädten und aufgegebenen Fabrikgebäuden. Da der französische Staat weiterhin bewußt auf die geordnete Unterbringung dieser Menschen verzichtet, herrschen katastrophale sanitäre Verhältnisse. Die Hoffnungslosigkeit der Menschen sorgt darüber hinaus für steigende Gewalt unter verfeindeten ethnischen Gruppen, aber auch für Kriminalität gegen Einheimische.

Regelrecht belagert fühlen sich vor allem jene, die irgendwie mit dem Transportwesen zwischen England und dem Festland zu tun haben. Nur wenige Migranten haben das Geld, für 5.000 Euro einen Lkw-Fahrer zu bestechen, der einen willentlich nach Großbritannien zu schmuggeln versucht. Die anderen klettern unter geparkte Lkw oder stürzen sich von Brücken, um Planen aufzuschlitzen und sich in der Fracht zu verstecken.

Wobei die Fahrer immer mehr auf der Hut sind, da ihnen – selbst wenn sie unschuldig sind – in England eine Strafe von umgerechnet 2.500 Euro für jeden illegalen Passagier droht.

Inzwischen versprechen sich die Zuwanderer am meisten Erfolg davon, wenn sie in großen Gruppen ganze Züge nach England stoppen und sich darin verstecken. Wenn so bis zu 350 Illegale einen Zug kapern, gelingt nach dem Gesetz der großen Zahl meist wenigstens einer Handvoll Invasoren trotz sofortiger Polizeikontrolle die Einreise. Beobachter gehen pro Woche von cirka zwanzig bis fünfzig geglückten illegalen Einwanderungen von Calais nach Großbritannien aus.

Auch eine Fähre nach Dover wurde im September Ziel eines solchen kollektiven Stürmungsversuchs. Ein traumatisierendes Bild für alle, die solche Zusammenrottungen Hunderter erleben und beobachten. Viele Bürger von Calais empfinden das als Belagerung fast wie im Hundertjährigen Krieg, als die Stadt 1347 elf Monate lang von den Engländern eingeschlossen war. Familien trauen sich nicht mehr, die Kinder draußen spielen zu lassen oder nachts aus dem Haus zu gehen.

Auch die jüngst erfolgte Aufstockung der Sicherheitskräfte in Calais um 100 Mann auf nun 450 Polizisten vermag die Lage bisher nicht zu stabilisieren. Die Illegalen spielen mit der Polizei Katz und Maus.

Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, beklagte bei einem kürzlich erfolgten Besuch in der Stadt, daß es nicht viel nütze, die Polizei aufzustocken, wenn die Beamten nicht die „notwendigen Befehle“ bekämen, womit sie die Festnahme und Ausweisung der Illegalen meinte. Gleichzeitig äußerte sie sich aber auch besorgt, daß das Wegschauen des französischen Staates in Calais eine Radikalisierung der Bevölkerung nach sich ziehen könne.

Großbritannien verspricht Millionenhilfe

Nicht zu Unrecht, denn im September mußten vier junge Einheimische festgenommen werden, die ein von Ägyptern illegal bewohntes Backsteingebäude mit Molotowcocktails bewarfen. Zudem wurde ein Mann verhaftet, der mit einem Luftgewehr auf illegale Einwanderer geschossen hatte. Inzwischen haben sich Kräfte „rechts“ des Front National der lautstarken Proteste in der Stadt angenommen: Am 7. September fand in Calais unter der Ägide einiger aus dem FN gedrängter „Rechtsabweichler“ eine Demonstration der Bürgerinitiative „Sauvons Calais“ („Rettet Calais“) statt, die nach Angaben der Veranstalter 300 Teilnehmer hatte.

Die Initiative, die bei Facebook aktuell auf über 10.000 „Gefällt mir“-Klicks kommt, handelte sich mit ihrem Protest gleich mehrere Anzeigen wegen Volksverhetzung ein. So wurde in der aufgeheizten Stimmung der Demonstration nicht nur „Schmeißt sie raus“ skandiert, sondern nach Angaben der Medien angeblich auch ein Hitlergruß gezeigt.

Unterdessen hat Großbritannien Calais eine über drei Jahre verteilte Hilfe in Höhe von 15 Millionen Euro zur Sicherung des Hafens mit drei Meter hohen Zäunen zugesagt. Darüber hinaus lenkt Calais unter dem Eindruck des nahenden Winters ein und will für die Frauen und Kinder unter den Flüchtlingen Unterkünfte bereitstellen. Für die übrigen illegalen Transitreisenden soll es ab sofort zumindest tagsüber eine feste Anlaufstelle mit Verpflegung geben.

Foto: Illegale in Calais: Lkw-Ladefläche erklimmen und ab nach England

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