© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Bäume und Knochen sprechen zu uns
Exakt, glaubwürdig und innovativ: Einblicke in die vergleichende historische Klimaforschung
Christoph Keller

Unter Archiv stellt man sich gemeinhin einen Aufbewahrungsort für Unmengen von Papier vor, das Historikern Auskunft über die Vergangenheit geben kann. Nichts scheinen Archive hingegen mit Bäumen, Sedimenten und Isotopen zu tun zu haben. Und doch haben sich in den vergangenen 30 Jahren Spezialdisziplinen wie Paläoklimaforschung, Dendroarchäologie und Paläogenetik entwickelt, die bemüht sind, natürliche Gegenstände auszuwerten und die erhobenen Daten so zu „archivieren“, als handle es sich um schriftliche Dokumente.

9.000 Eichen verraten das Klima in der Spätantike

Diese Anstrengungen, möglichst weit zurückzublicken in die Anfänge menschlicher Kultur, verdanken ihre bevorzugte wissenschaftspolitische Förderung dem Phänomen des Klimawandels. Instrumentell gewonnene Meßdaten geben nämlich nur Auskunft über die Klimabedingungen seit Beginn der Industrialisierung vor knapp 200 Jahren. Um Vergleichsdaten vor allem zur Abschätzung von Klimafolgen und für prognostische Modellierungen zu gewinnen, bedarf es jedoch präziser Informationen über Zustände der Atmosphäre und des Klimas über den gesamten Zeitraum des Holozäns, das mit dem Ende der Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren einsetzt.

„Enorme technische Errungenschaften“ und neue „hohe Labor-Standards“ machen unscheinbar wirkende Indikatoren wie Holz- oder Zahnreste zu so auskunftsfreudigen wie glaubwürdigen Klimazeugen. Vor allem bewährten sich dabei Jahrringe archäologischer Holzfunde. Seit den 1970ern sind Zehntausende von Jahrringserien erstellt und im virtuellen „Umweltarchiv“ versammelt.

Die Daten lassen Klimarekonstruktionen zu und weisen dekadische bis mehrhundertjährige Schwankungen wie das „Mittelalterliche Klimaoptimum“ oder die „Kleine Eiszeit“ zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert nach. Analysen hochfrequenter Auflösungen gestatten zudem Rückschlüsse auf klimatische Extremereignisse. Anhand neuerer Untersuchungen von Nadelhölzern aus Waldgrenzstandorten dürfen Willy Tegel und Dietrich Hakelberg, Fachleute für Dendrochronologie an der Uni Freiburg, daher eine eindrucksvolle Bilanz der Erkenntnisgewinne auf diesem Forschungssektor ziehen (Geographische Rundschau, 7-8/2014).

Dank reicher subfossiler Baumfunde aus Gletschervorfeldern, Seen und Mooren der Ostalpen konnte eine bis 8072 v. Chr. zurückreichende Nadelholzchronologie aufgebaut werden, parallel zur Eichenchronologie, die derzeit bis 8480 v. Chr. zurückführt. Auf der Basis von 9.000 untersuchten Eichen aus Tieflagen sowie Nadelhölzern der Hochlagen ließen sich die hydroklimatischen Bedingungen im Frühjahr und Sommer im Verlauf von 2.500 Jahren errechnen. Mit dem Resultat, daß nach einer klimatisch stabilen Phase während der Römerzeit, in der Spätantike um 250 n. Chr., kühlere Sommer folgten, verbunden mit erhöhten Niederschlagsschwankungen bis hin zu einer trockenen und kühlen Periode im 6. Jahrhundert. An dessen Ausgang, so verrät die Anordnung der Zellen im gewachsenen Holz, nahmen die Frühjahrsniederschläge zu und die sommerlichen Temperaturen stiegen an.

Von 700 bis 1250 erlebten die Europäer eine Warmphase, wie sie ähnlich erst wieder im späten 19. Jahrhundert einsetzte. Die seit kurzem höheren Sommertemperaturen können nun, wie Tegel und Hakelberg konstatieren, genau im Kontext von Temperaturschwankungen seit 500 v. Chr. eingeordnet werden und verdeutlichen den gegenwärtigen Erwärmungsprozeß. Allerdings sei bisher kein mit dem Mittelalter vergleichbarer Rückgang der Niederschlagsmengen in Mitteleuropa zu registrieren.

Was Tegel und Hakelberg anhand der Dendrochronologie belegen, bestätigen im selben Heft der Geographischen Rundschau drei weitere Beiträge: der des Innsbrucker Umwelthistorikers Kurt Nicolussi, der alpine Gletscherschwankungen analysierte, sodann die Studie Achim Brauers (Geoforschungszentrum Potsdam) zu jahresgeschichteten Seesedimenten sowie die mikrologischen Befunde, die Barbara Bramanti und Stephanie Hänsch (Uni Oslo) anhand „alter“, in prähistorischen Knochen oder in Mikroorganismen bewahrter DNS liefern, die über Veränderungen vergangener Ökosysteme genauso aufklären wie über Krankheitserreger oder die Stationen der Domestikationsgeschichte von Tieren und Pflanzen.

Heutiger Klimawandel ein normaler Vorgang?

Holz- und Torfreste, die die aktuell verstärkte Gletscherschmelze an neuen Fundstellen freilegte, erlauben Nicolussi empirisch gut abgesicherte Aussagen über das klimabedingte Wechselspiel von Gletschervorstößen und Rückzügen seit 7100 v. Chr. Gletscher bewähren sich daher genauso als „natürliche Klimaarchive“ wie Baumringe, im Permafrost konservierte Knochen und Zähne oder die von Brauer favorisierten Seesedimente, die sich seit der letzten Eiszeit am Rande des zerfallenden Eisschildes durch die saisonale Gletscherschmelze gebildet haben und die dabei einem gut nachweisbaren jahreszeitlichen Rhythmus folgten.

Moderne Fluoreszenz-Scannerverfahren, die Elementverteilungen in einer Auflösung von bis zu 50 μm messen, erfassen die chemische Zusammensetzung „selbst feinster saisonaler Schichten“ in diesen Sedimenten, so daß das Auszählen von Jahreslagen eine präzise Datierung des Materials ermöglicht. Verlauf und Geschwindigkeit starker Klimaschwankungen „selbst in weit zurückliegender Vergangenheit“ seien mit diesem Verfahren fehlerfrei zu ermitteln.

Aus ihren mit Vergleichsdaten gespickten Klimarekonstruktionen ziehen jedoch weder die Dendroarchäologen noch die Geowissenschaftler den beruhigenden Schluß, der Klimawandel des 21. Jahrhunderts ordne sich „normal“ in die periodischen Schwankungen von Kalt- und Warmphasen ein. Vielmehr stellt Nicolussi ausdrücklich klar, daß die Gletschervariabilität bis zum 19. Jahrhundert zwar stets mit natürlichen Kausalitäten wie der zyklisch schwankenden Stellung der Erde zur Sonne, veränderter Meereszirkulation oder vermehrten großen Vulkanausbrüchen zu erklären sei.

Aber gerade der Vergleich zeige nun, daß der derzeitige Gletscherrückgang sich, im Widerspruch zu allen älteren Konstellationen, ungeachtet der Reduktion der Sonnenaktivität vollziehe, die während der Früheisenzeit mit markanten Gletscherhochständen einherging. Somit liefere dieses alpine Klimaarchiv „einen weiteren Beweis für den anthropogen verursachten Klimawandel“. Eine Schlußfolgerung, die Heinz Wanner und Martin Grosjean vom Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (Uni Bern) in ihrer Zusammenfassung einer erstmals für sieben Kontinentalregionen erstellten Studie über „globale Temperaturvariabilität der letzten 2.000 Jahre“ bekräftigen (Physik in unserer Zeit, 4/2014).

Foto: Querschnitt durch eine 357 Jahre alte Gelb-Kiefer mit fünf Brandnarben: Den Archiven der Natur noch größere Geheimnisse entlockt

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