© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Schockierende Modelle
Faszination menschlicher Körper: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden präsentiert ein historisches Wachskabinett
Paul Leonhard

Schneewittchengleich liegt das blonde Mädchen in einer gläsernen Vitrine. Die Augen sind geschlossen. Ein rotweißgestreiftes Kleid umhüllt den Körper, nur die Brüste liegen frei. Sie wie auch die Füße zeigen baumartige Male: charakteristische Spuren eines Blitzschlages. Das um 1900 gefertigte Wachsmodell stand einst im Eingangsbereich eines anatomischen Kabinetts. Es sollte Neugierige anlocken, denn daß ein Mensch vom Blitz getroffen wird, kam seinerzeit häufig vor.

Auch heute zieht das Mädchen Besucher in ihren Bann. Es gehört zu rund 250 Objekten, die das Deutsche Hygiene-Museum Dresden in seiner Sonderausstellung „Blicke! Körper! Sensationen“ – Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst“ zeigt. Geschickt hat die Berliner Kuratorin Eva Meyer-Hermann die historischen Modelle mit körperbezogenen Arbeiten bedeutender Künstler der Gegenwart, wie etwa Louise Bourgeois, Alexandra Bircken, Marcel Duchamp und anderer, verbunden. Diese bilden gleichsam den Rahmen um das Wachskabinett mit seinen teilweise schockierenden Modellen. Damit soll nicht nur das „erkenntnisleitende Spannungsverhältnis von Betrachter und Objekt auf unterschiedlichen Ebenen in Szene gesetzt“ werden, wie Museumsdirektor Klaus Vogel sagt, sondern dem Besucher auch die Möglichkeit gegeben werden, das im historischen Kabinett Gesehene zu verarbeiten.

Anatomische Wachskabinette hatten ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sind Ausdruck einer sich wandelnden bürgerlichen Gesellschaft. Die populären Schauen waren Vermittlungs- und Aufklärungsinstrument, boten auch Orientierung durch Abschreckung: Die Besucher sollten sich von dem, was in den Ausstellungen als abnorm, krank oder verwerflich definiert wurde, moralisch distanzieren. Die Wachsmodelle selbst waren von hoher Qualität.

In der Ausstellung sind sie nach Schwerpunktthemen geordnet. Der Fokus liegt auf dem Aufbau des weiblichen Körpers, auf Geburt und Sexualität sowie auf der Darstellung des kranken Körpers und auf dem medizinischen Fortschritt. Auch neue Operationstechniken sind dokumentiert. Geburtshilfliche Handgriffe zeigen die um 1890 entstandenen Modelle aus der Werkstatt von Rudolph Pohl. Andere Exponate zeigen einen gesunden Magen und daneben den eines Säufers. Kaputte Nieren sind zu sehen, Hauterkrankungen und Geschwüre, die Resultate von Arbeitsunfällen und Kriegsverletzungen. Breiter Raum wird Geschlechtskrankheiten als Folgen des damals gesetzlich verbotenen Analverkehrs zwischen Männern gewidmet.

Von „fiesen Themen“ und „schwierigen Objekten“, spricht Kuratorin Meyer-Hermann. Und von den Antworten auf die Frage, wie man Empathie für die Objekte schafft, die vielleicht hochschwappenden Emotionen der Betrachter abfängt. Es geht um Fragen nach der mit Blick auf und in den Körper richtigen Nähe oder Distanz, nach dem Unterschied zwischen Wissen und Phantasie, nach dem Verhältnis von Neugier und Voyeurismus, von Mitleid und Ekel.

An der Faszination, die der menschliche Körper auslöst, hat sich nichts verändert. Der große Zulauf für Gunther von Hagens Körperwelten-Ausstellung, die quer durch die Republik wanderte, hat das gezeigt. Früher führten Schausteller Wachsmodelle menschlicher Körper auf Jahrmärkten vor. 1840 waren beispielsweise in Breslau das „Theater Daguerre aus Paris“ nebst „Militair-Gallerie“ und einem „großen anatomischen Museum“ der neueste Schrei, den man unbedingt gesehen haben mußte. In München war der Zustrom so groß, daß die Ausstellung verlängert werden mußte, und ein Herr Melchior Trumpy aus der Schweiz wirbt auf einem Plakat „mit Obrigkeitlicher Erlaubnis“ für sein „anatomisches Wachs-Präparat, einen weiblichen Körper vorstellend“: „Man sieht alle innern Theile in ihrer Lage, Farbe und natürlicher Gestallt, und jeder Theil kann einzeln ausgehoben werden.“

Diese wandernden Wachskabinette waren mehr als populäre Unterhaltung. Sie dienten der Gesundheitsaufklärung breiter Bevölkerungsschichten. Die im Hygiene-Museum zu sehende Sammlung läßt sich bis ins Jahr 1856 zurückverfolgen. Immer wieder wurde sie ergänzt, verändert, aktualisiert. Fotos aus den dreißiger Jahren zeigen, wie die Schaustellerfamilie Hoppe das anatomische Wachskabinett präsentierte. Als in den siebziger Jahren das Interesse des Jahrmarktpublikums nachläßt, wird die Sammlung erst eingelagert und schließlich nach Finnland verkauft. Unter dem Titel „Panoptikum“ wird sie vor allem in Skandinavien gezeigt.

Die Hälfte des Bestandes konnte 2009 für Dresden erworben werden und wurde in den Museums-Werkstätten mit „viel Mühe, Zeit und Leidenschaft“ (Vogel) so konserviert und restauriert, daß fast alles ausgestellt werden konnte. Ziel war es dabei, das über Jahrzehnte gewachsenen Ensemble authentisch zu bewahren, darunter auch die von der wechselvollen Geschichte zeugenden Papierschilder auf den Schaukästen mit ihren Erläuterungstexten. Für das Hygiene-Museum ist es die größte Präsentation eigener Sammlungsbestände seit zwanzig Jahren.

Die Ausstellung ist bis zum 19. April 2015 im Deutsches Hygiene-Museum in Dresden, Lingnerplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 0351 / 48 46-400

www.dhmd.de

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