© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Die Politik hätte gewarnt sein müssen
Kanada: Im Kampf gegen die Radikalislamisten zeigte sich das Land blauäugig, nun soll alles besser werden
Marc Zöllner

Nichts bleibt außer den Blumen am Grabe des unbekannten Soldaten im Herzen der kanadischen Hauptstadt Ottawa, direkt vor dem Zugang zum Parlamentsgebäude. Nichts außer einigen Schaulustigen aus der Stadt, Passanten, die Kondolenzkarten hinterlegen, Angehörigen der internationalen Presse sowie den politischen Vertretern der Öffentlichkeit, die nun bestürzt fragen: Hätte die Tragödie verhindert werden können?

An gleicher Stelle begann der 32jährige Michael Zehaf-Bibeau vergangenen Mittwoch seinen Amoklauf. Mit einem Gewehr bewaffnet, stürmte er zuerst das Kriegsdenkmal, erschoß einen zur Ehrenwache abgestellten Soldaten und verschanzte sich anschließend im Parlament.

Das wohhabende Land sparte am falschen Ende

Selbst Kanadas Premierminister Stephen Harper, der zu dieser Zeit mit seinem Juristenstab debattierte, mußte sich über Minuten hinweg in einem Kleiderschrank verstecken, bis es dem „Sergeant at Arms“ Kevin Vickers gelang, den Angreifer zu erschießen. Bis dahin zeigten sich die Sicherheitskräfte überrascht und planlos. Schlimmer noch: Auch der getötete Soldat war nicht bewaffnet, sein Gewehr nur eine Attrappe.

Dabei hätte die kanadische Regierung gewarnt sein müssen: Nur zwei Tage zuvor rammte der 25jährige Martin Couture-Rouleau mit seinem Wagen in Montreal, der Hauptstadt der frankophonen Provinz Quebec, zwei uniformierte Soldaten, von denen einer auf der Intensivstation seinen Wunden erlag.

Noch am gleichen Tag hob das Ministerium für öffentliche Sicherheit die Terrorstufe für ganz Kanada an. „Die Geheimdienste haben festgestellt, daß ein Individuum oder eine Gruppe innerhalb Kanadas die Absicht sowie das Potential besitzen, einen Terrorakt zu begehen“, begründete Ministeriumssprecher Jean-Christophe de Le Rue das Vorgehen seiner Behörde.

Zudem war Couture-Rouleau kein Unbekannter. Im Gegensatz zu Zehaf-Bibeau, der in verschiedenen Obdachlosenunterkünften des Landes untergebracht war und in der Vergangenheit lediglich durch kleinkriminelle Drogendelikte auffiel, lagen gegen den Quebecer konkrete Beweise vor, sich aktiv von islamistischen Organisationen aus dem Nahen Osten, namentlich der Terrormiliz Islamischer Staat, anwerben lassen zu wollen. Erst im Juli wurde er bei einem Ausreiseversuch in die Türkei, von der aus er als Dschihadist nach Syrien vorstoßen wollte, am Flughafen von Montreal festgenommen, sein Reisepaß vorsorglich entzogen.

Seitdem führten die Sicherheitskräfte den Namen Couture-Rouleaus auf einer Liste von 93 Terrorverdächtigen, die vom Inlandsgeheimdienst – zumindest theoretisch – rund um die Uhr bewacht werden sollten. Doch dem wohlhabenden Kanada mangelt es überraschenderweise vor allem an Geld für die personelle und materielle Ausstattung.

Die Pläne Stephen Harpers, als Reaktion auf beide Anschläge die Befugnisse des kanadischen Inlandsgeheimdienstes Canadian Security Intelligence Service (CSIS) auch auf das Ausland auszuweiten, Informanten aus der heimischen islamistischen Szene mit Blankoschecks bezüglich ihrer Identität und ihrer Aussagen auszustatten sowie die öffentliche Billigung extremistisch motivierter Akte unter Strafe zu stellen, stoßen im liberalen Nordamerika parteiübergreifend auf harsche Kritik. Nicht nur verfassungsrechtlich ginge der Staat hierbei an seine Grenzen, warnen Juristen wie Politiker.

„Fast immer sind sämtliche benötigten Berechtigungen zur Ermittlung bereits vorhanden“, wandte Thomas Mulcair, Rechtswissenschaftler an der Universität von Montreal und seit Frühling 2012 Vorsitzender der sozialliberalen Neuen Demokratischen Partei (NDP), Mitte vergangener Woche ein. „Was wir tatsächlich brauchen, ist die Bereitstellung der Ressourcen, um diese Berechtigungen auch ausüben zu können.“

Auch außen- und sicherheitspolitisch sollte Kanada seine Prioritäten überdenken, um die innere Sicherheit wieder gewährleisten zu können, fordern erste Kommentatoren. Nur einen Tag vor der ersten Bluttat entschied das kanadische Verteidigungsministerium, sich mit sechs Kampfflugzeugen an den Angriffen der Allianz gegen den Islamischen Staat in Syrien beteiligen zu wollen. Die beiden Amokläufe von Montreal und Ottawa wurden mutmaßlich dadurch motiviert.

Armeeangehörige sollen künftig in Zivil auftreten

„Wir sollten nicht überrascht sein: Kein Staat kann ein anderes Land angreifen oder besetzen, ohne eine Menge Leute stinksauer werden zu lassen, selbst wenn die Unzufriedenen eine Minderheit bleiben“, unterstreicht Stephen Walt, Professor für Internationale Beziehungen in Harvard, im Blog des renommierten Politmagazins Foreign Policy. Einige dieser Leute, so Walt weiter, würden „immer versuchen, in unserer Heimat zurückzuschlagen“.

Um seine Soldaten zumindest innerhalb des kanadischen Territoriums nicht weiter gefährdet zu sehen, ordnete der Vorsitzende des Verteidigungsstabs, General Tom Lawson, zum Wochenende eine höchst unpopuläre Maßnahme an. Den Angehörigen der Streitkräfte ist es fortan verboten, sich außerhalb ihrer Militärbasen in Uniform zu bewegen. Auch die Soldaten vor dem Kriegsdenkmal in Ottawa wurden ersatzlos abgezogen. Das Grab des unbekannten Soldaten bleibt somit – vorläufig – ohne Ehrengarde.

Foto: Grabmal des unbekannten Soldaten in Ottawa: Nach der Zeremonie wurden die Soldaten abgezogen

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