© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

„… wie Gott in Deutschland!“
Von wegen Hölle der Austerität: Der französische Präsidentenberater Alain Minc ist der Meinung „Vive l’Allemagne!“
Peter Michael Seidel

Als Berater des ehemaligen französischen Präsidenten Sarkozy ist Alain Minc der Umgang mit seinem östlichen Nachbarn vertraut. Sein neues Buch „Vive l’Allemagne! Was Deutschland alles richtig macht – und was nicht“ gibt davon Zeugnis. Und um es gleich vorweg zu sagen: Seine Darstellung der Geschichte Deutschlands von der Gründung des ersten Reiches 843 in Verdun bis ins 20. Jahrhunderts gehört zum Brillantesten, was je in dieser Kürze über deutsche Geschichte geschrieben wurde. Und dies mit klassischem französischen Esprit: ein geistvolles Erlebnis für deutsche Leser, die damit nicht oft verwöhnt werden.

Mincs neues Buch ist allerdings kein Geschichtsbuch. Seine Sorge gilt der Entwicklung Deutschlands in und für Europa. Seine zentrale These lautet knapp: „Im Zentrum der Europäischen Union (…) darf kein Vakuum herrschen, (…) ist Deutschland der Motor der Union (…), seine Aufgabe, die Richtung vorzugeben.“ Dies fügt sich nicht nur in ähnliche Äußerungen von Politikern, sondern auch in publizistische wie die Deutschland-Bücher des Amerikaners Eric Hansen („Die ängstliche Supermacht“) oder des Italieners Angelo Bolaffi („Deutsches Herz“), die in die gleiche Kerbe hauen, wenn sie Deutschland zu mehr Aktivität auffordern. Mincs Schrift ist im publizistischen Sektor ein neuer Akzent, aber kein Unikat mehr. Der Tenor ist jeweils gleich: Deutschland soll mehr Europa wagen!

Komprimierte Ausführungen umfassen zunächst Kapitel über den Nationalsozialismus, der kein unabwendbares Schicksal gewesen sei, über den Wiederaufstieg nach dem Krieg, die gelungene Wiedervereinigung und die erfolgreiche deutsche Wirtschaft. Sie sind vor allem aber die Folie, von der sich die europapolitischen Einschätzungen und Zukunftsfragen Mincs abheben. Im Fokus stehen dabei die katastrophale demographische Entwicklung, die Minc eben nicht als „demographischen Wandel“ verharmlost, sondern als „Schlüsselfaktor“, als die Ursache für einen kommenden wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands ausmacht, der Frankreich zugute kommen werde, sowie die herrschende Tendenz, sich als „große Schweiz“ zu sehen und nicht als politische Gestaltungsmacht. Dabei wirft er konsequenterweise auch einen Blick auf die Haltung der Europäer, die hier vor allem emotional gespalten seien.

Deutschland soll zahlen, Frankreich mehr bestimmen

Die politischen Vorstellungen Mincs sind vor allem über die Kapitel sechs, neun und zehn verstreut: Man muß sie zusammenfügen wie Puzzleteile, um ein klares Bild zu gewinnen. Deutschland soll demnach auf seinem Europakurs auch mit Eurobonds, Fiskal- und Bankenunion fortfahren, dafür allerdings stärker gelobt werden, auch um die deutsche Öffentlichkeit zu beruhigen. Es soll ermuntert werden, mehr Verantwortung bei der Schaffung einer politischen Union zu übernehmen, von der sich gerade Frankreich mehr Einfluß erwartet, da die deutsche Wirtschaftskraft so kompensiert werden könne, mehr als jetzt bereits im Euro-System, bei dem heute schon ein Italiener fürs Geld und ein Franzose für die Finanzen zuständig sind. Und: Das Ganze solle schnell geschehen, denn „in zehn Jahren wird das nicht mehr möglich sein“, weil dann in Berlin die nächste Generation bestimmen würde.

Mincs Buch erscheint zu einem Zeitpunkt operativer Bedeutung: „Nun stehen Banken- und Fiskalunion an, hinter denen der föderal organisierte Zentralstaat lauert“, wie Thomas Mayer im September in der FAS hervorhob. Der Gründungsdirektor am Center for Financial Studies der Universität Frankfurt/Main wird deutlicher: Eine politische Union Europas biete eben „keine Lösung für die weiter schwelende Krise der Währungsunion“, und ihre Einführung „durch die Hintertür“ führe zur Spaltung Europas. „Kommt es aber wegen des Widerstands der Wähler nicht dazu, wird der Euro als Staatsgeld nicht überleben. (…) Den wenigsten Bürgern ist klar, ob es eine Grenze für die Vergemeinschaftung gibt und, wenn ja, wo die politischen Eliten diese gezogen haben.“

Der Autor sagt dies nicht deutlich, wenn er von Föderalismus spricht, der im Deutschen in Verbindung mit Subsidiarität verstanden wird und eben nicht als staatlicher Zentralismus wie in Frankreich. Allerdings: Minc hat nicht speziell für den deutschen Leser geschrieben. Das Buch ist zuerst in Frankreich erschienen. Dem französischen Leser sollen die Lage und die Europapolitik seines Landes erklärt werden. Das verleiht dem Buch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Und so verdient es auch gelesen zu werden: Ohne die jeweilige, unterschiedlicher werdende Interessenlage beider Länder zu vergessen. Denn je mehr Frankreich unter Hollande ein Land des Südens wird, desto mehr werden die Spannungen wachsen. Und dann könnte Mincs Vorstellung vielleicht schon bald wahr werden, daß „die Gesamtheit der europäischen Schulden vergemeinschaftet würden und dadurch zu massiven Finanztransfers gen Süden“ führen, so daß es dann schon bald nicht mehr heißen könnte wie im Eingangssatz des Buches: „Leben wie Gott in Deutschland!“

Alain Minc: Vive l‘Allemagne! Was Deutschland alles richtig macht – und was nicht. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2014, gebunden, 159 Seiten, 16,99 Euro

Foto: Deutsch-französischer Genuß: Gesamtheit europäischer Schulden möglichst rasch vergemeinschaften

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