© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Die Seherin von der Düne
Untergang des deutschen Ostens: Zum fünfzigsten Todestag der ostpreußischen Dichterin Agnes Miegel
Thorsten Hinz

Agnes Miegel war eine Schriftstellerin von Rang, trotzdem will die Bezeichnung, in der die moderne Vorstellung von Kritik und Aufklärung mitschwingt, nicht für sie passen. Treffender und ihrem Selbstverständnis näher ist der Begriff der Dichterin, der im traditionellen Verständnis die Seherin und Prophetin mit einschließt.

Ihre Auffassung von Dichtkunst machte Miegel schon zu Lebzeiten zu einer für den Kulturbetrieb befremdlichen Erscheinung, zunächst in der Weimarer und erst recht in der Bundesrepublik, wo die „Gruppe 47“ literarisch den Ton angab. Von ihren Anhängern als „Mutter Ostpreußen“ verehrt, erfreute sie sich hier dennoch großer Beliebtheit. Davon zeugt neben den vielen Agnes-Miegel-Straßen die Aufwartung des SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt 1961 in ihrem Häuschen in Bad Nenndorf in Niedersachsen. Dort, „in dem erntemüden Land im Westen“, lebte sie bis zu ihrem Tod am 26. Oktober 1964. Heute beschränkt ihre Bekanntheit sich auf einen kleinen Kreis von Literaturkennern – und auf gewisse Antifaschisten, die sich Miegel zum Zielobjekt ihres unstillbaren Jagdinstinkts erkoren haben.

„Ich bin am 9. März 1879 in Königsberg in Preußen geboren, in dem ältesten Teil der Ordensstadt, dem Kneiphof, der alten Handelsinsel, in der die Giebelhäuser vergessener Kaufherren um den roten Backsteindom stehen, an dessen Nordwand Kant schläft (…) Meine Kindheit war reich und schön durch diese Stadt, die mein bestes, unerschöpflichstes Bilderbuch war.“ Mit dieser Selbsterklärung beginnt ihr 1936 veröffentlichtes Büchlein „Unter hellem Himmel“. Ihre Dichtung ist ein einziger großangelegter Versuch, das Bilderbuch Königsbergs und Ostpreußens aufzublättern und zu deuten und den Faden, der sie mit ihren Ahnen verband, permanent neu zu knüpfen.

Einbruch der Pest auf der Kurischen Nehrung

Ihre literarische Bedeutung erlangte sie als Balladendichterin. Die Stoffe entnahm sie der deutschen Sagenwelt, der ostpreußischen Überlieferung und – nach einem Aufenthalt in England, wo sie als Lehrerin gearbeitet hatte – der englischen Geschichte. Ihr berühmtestes Gedicht sind „Die Frauen von Nidden“ von 1908, das bis heute in jeder anspruchsvollen Balladensammlung zu finden ist.

In kraftvoller Sprache schildert es den Einbruch der Pest auf der Kurischen Nehrung. Die Frauen im Dorf hoffen zunächst, daß Gott sie verschont und die Seuche am jenseitigen Ufer haltmachen läßt, denn der Sand der Wanderdüne prüft sie Tag für Tag hart genug. „Doch die Pest ist des Nachts gekommen / Mit den Elchen über das Haff geschwommen.“ Das Schicksal, das sich der Natur bedient, ist stärker als der Christengott, und nach wenigen Tagen sind sieben Frauen die letzten Überlebenden. In absoluter Verlassenheit („Kein Tischler lebt, der den Sarg uns schreint, / Nicht Sohn noch Enkel, der uns beweint ...“) bitten sie die Düne, ihr unerträgliches Los zu beenden: „Schlage uns still ins Leichentuch, / Du unser Segen, – einst unser Fluch. / Sieh, wir liegen und warten ganz mit Ruh, – / Und die Düne kam und deckte sie zu.“

Es zeugt von der Sprachkraft Miegels, daß sie knapp 65 Jahre nach Heines „Weberlied“ erneut den „Fluch“ aufs „Leichentuch“ reimen konnte, ohne epigonal zu wirken. „Die Frauen von Nidden“ bilden den Schlüssel zu ihrem Gesamtwerk, das zunehmend von der Furcht durchzogen wurde, daß ganz Ostpreußen das Schicksal des Nehrung-Dorfes ereilen würde. „Mutter Ostpreußen! Einsame am Brückenkopf Deutschlands / Abseits den Schwestern, den sicher geborgenen, wohnend ...“, heißt es in einem Gedicht von 1932.

Dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler traute die politisch naive, hier in Hexametern dichtende Miegel zu, das Verhängnis abzuwenden. 1934 äußerte sie: „Wenn ich über meine Heimat und ihr Geschick etwas glaube, so ist es das: Wir werden ein nationalsozialistischer Staat sein – oder wir werden nicht sein! Und das wäre der Untergang nicht nur Deutschlands – es wäre der Untergang des weißen Mannes.“ 1940 veröffentlichte sie den Gedichtband „Ostland“, den sie einleitete mit dem Widmungsgedicht „An den Führer“. Nicht mit dem „überschäumenden Jubel“ der Jugend habe sie ihn begrüßt, sondern „leidgeprüften Herzens, geläutert im Opfer / Das seiner Kindheit Welt in Krieg und Stürmen vergehen sah“.

Im Gedicht „Sonnenwendreigen“, das den Untertitel „Danzig 1939“ trägt, läßt sie die nordostdeutschen Städte von Memel (das gerade dem Deutschen Reich wieder eingegliedert worden war) über Königsberg, Elbing bis zum pommerschen Stettin auftreten. Ungeduldig erwarten sie den Eintritt Danzigs in ihren Reigen. Danzig möchte wohl, aber: „Purpurn und golddurchwirkt prangt mein Gewand, – Doch schlimmen Zaubers Spruch hält mich gebannt.“ Die Hoffnung aber stirbt zuletzt: „Furchtlos harr ich auf ihn, dem ich vertraut. / Der die Sonne führt, weiß die Zeit / Wenn mein Ritter kommt und mich Verbannte befreit!“

Miegel verdient eher Mitleid als Zorn

Die 16 Gedichte sind in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Das Dritte Reich war niemals ein Sommernachtstraum mit Erlkönigen und guten Feen, der Versailler Vertrag kein simpler Zauberspruch und Hitler kein edler Ritter. Trotzdem verdient Miegel dafür eher Mitleid als Zorn, denn die aufgesetzte Munterkeit war die Maske, hinter der sie ihre wieder zunehmenden düsteren Ahnungen verbarg.

Am Schluß des zitierten Buches von 1936 schildert die Erzählerin eine Vision: „Ich sehe nichts mehr von der Stadt, von Türmen und Giebeln, so dunkel ist es geworden.“ Wenige Jahre später beschreibt sie in einem Brief, wie ihr, als sie von einer Reise heimgekehrt, Königsberg schöner denn je erschienen sei, „so wie man etwas zum ersten Mal sieht – oder zum Abschied“. Es erfülle sie ein „sonderbares Gefühl – als ob ich niemals wiederkommen werde“ und der Vorschein einer „ganz großen Veränderung, was schwerer ist als ein Ende“.

Am 27. Februar 1945 verließ sie das zerbombte Königsberg für immer. „Es war ein Land – wir liebten dies Land / Aber Grauen sank drüber wie Dünensand.“ Ostpreußens Schicksal und ihre Vorausschau hatten sich erfüllt. Das Gedicht aus dem Jahr 1952 mag konventionell sein, doch bisher hat niemand eine bessere Sprache für den Untergang des deutschen Ostens und für die Verlusterfahrung gefunden. Selbst der in Tilsit geborene Lyriker Johannes Bobrowski, der für die Flußlandschaften der Memel und ihrer Nebenströme bald zeitgemäßere Bilder prägte, fiel dazu nichts anderes ein als das Eiapopeia von deutscher Schuld.

Heute erreicht die Literatur der „Gruppe 47“ – von Ausnahmen abgesehen – kaum mehr die Gegenwart, und ihre Gesinnungsästhetik wirkt so überholt wie ihr Komplementärstück, der sozialtechnische Machbarkeitsglaube der alten Bundesrepublik. Es ist vorstellbar, daß Verse der Königsberger Seherin Agnes Miegel demnächst wiederentdeckt werden, weil sie sich als zeitlos und damit als überaus zeitgemäß erweisen.

Foto: Alte Universität Königsberg mit dem Dom auf dem Kneiphof: „Unerschöpflichstes Bilderbuch“

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