© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Die Kunst, die Kunst verbirgt
Rußlands Anschluß an Westeuropa: Wie die hohe italienische Oper an den Zarenhof in Sankt Petersburg kam / Cecilia Bartoli präsentiert auf ihrem neuen Album elf Ersteinspielungen aus dem 18. Jahrhundert
Jens Knorr

Als Katharina die Große die Gagenforderung der Koloratursopranistin Caterina Gabrielli für ein Engagement an der Hofoper erhielt, soll sie der Sängerin geschrieben haben, daß sie derartige Gehälter nicht einmal ihren Generälen zahle. Die Gabrielli ihrerseits soll zurückgeschrieben haben, daß Majestät ja gerne ihre Generäle singen lassen könne. Majestät haben sich dann doch für die Gabrielli entschieden. Die hat von 1772 bis 1775 für den Petersburger Hof gesungen. Aber nicht nur die Gabrielli.

Während ihrer Herrschaftszeit betrieben die Zarinnen Anna Iwanowna (1730–1740), Jelisaweta Petrowna (1741–1762), deren Tod im Siebenjährigen Krieg Preußens König gerettet hatte, und Jekaterina Welikaja, Katharina die Große (1762–1796), den Anschluß Rußlands an Westeuropa und als schöne Begleiterscheinung auch den Import westeuropäischer Opernstandards nach Rußland. Die besten italienischen Sänger ließen sich für die Zeit zwischen den kurzen Spielzeiten in Italien auf die beschwerliche Reise nach Sankt Petersburg oder Moskau ein.

Im Theaterarchiv fündig geworden

Oper braucht Institutionen und Sänger brauchen Arien. Jene organisierte der Hof, diese brachten die an den Hof engagierten Kapellmeister-Komponisten mit oder lieferten neue, anfangs mit den reisenden italienischen Wandertruppen, später für das ständige Operntheater. Den drei Zarinnen und den Komponisten, die unter ihnen das Sankt Petersburger Musikleben geprägt haben, widmet sich die italienische Mezzosopranistin Cecilia Bartoli in ihrem neuen Projekt „St. Petersburg“.

Daß es zu einer Zeit veröffentlicht wird, da dem deutschen Michel fleißig eingeredet wird, bei der gegenwärtigen russischen Regierungsform würde es sich um eine Form des Zarismus handeln, dürfte zufällige Koinzidenz sein; um so mehr darf das Projekt als Aufforderung verstanden werden, sich mit Phänomenen, über die man zu urteilen vorhat, seien es politische oder künstlerische, erst einmal gründlich zu befassen.

Cecilia Bartoli jedenfalls hat das auch diesmal getan. Die gebürtige Römerin (Jahrgang 1966) ist im Archiv des Mariinsky-Theaters fündig geworden. Denn jeder italienische Komponist, der Dienst am Sankt Petersburger Hof tat, hatte als Beleg seiner Tätigkeit die Partitur seiner neu aufgeführten Oper abzuliefern. So weiß es Maria Tscherbakowa zu berichten, als Direktorin der Musikbibliothek des Mariinsky-Theaters Hüterin einer einzigartigen Sammlung italienischer Opern des 18. Jahrhunderts, die Zeugnisse der Vorgeschichte des russischen Musiktheaters sind.

Alle elf Nummern des Albums, zehn Arien und ein Chorus, sind Ersteinspielungen. Mit einer Arie aus Francesco Araias „La forza dell’amore e dell’odio“, „Die Macht der Liebe und des Hasses“, eröffnet Bartoli ihr Programm. Die Aufführung der aktualisierten Fassung dieser bereits 1734 in Mailand herausgekommenen Seria durch Araias Truppe, 1736, gilt als erste abendfüllende Opernaufführung in Rußland. Hermann Friedrich Raupachs „Altsesta“ auf ein Libretto von Alexander Petrowitsch Sumarokow gilt als ein erster Versuch, eine russische Opera Seria zu schaffen. Bartoli singt zwei Arien daraus in russischer, der Originalsprache.

Zur Krönung Jelisaweta Petrownas wurde im Jahre 1742 Hasses „La Clemenza di Tito“ auf das Libretto Metastasios gegeben, für die Dall‘Oglio und Luigi Madonis einen Prolog schrieben. Bartoli hat ihn ausgegraben. Aus der Reihe fällt eine Arie aus Araias „Seleuco“ einzig darum, weil die Oper nicht in Sankt Petersburg, sondern 1744 in Moskau gegeben wurde. Bartoli reiht sie ein.

Auch Vincenco Manfredini und Domenico Cimarosa waren als Kapellmeister an den russischen Zarenhof gekommen. Aus Manfredinis „Carlo Magno“ und Cimarosas „La vergine del sole“, beide für Sankt Petersburg geschrieben, stammen die musikalisch ergiebigsten Arien des Albums.

Die Seria geriet ins Hintertreffen, als Katharina II. nach ihrer Thronbesteigung die Opera Buffa förderte und so den Boden für eine eigenständige russische Oper bereitete. Aber das ist ein neues Kapitel Sankt Petersburg, das Bartoli nicht aufschlägt.

An sich sind die Kompositionen des Albums nicht besonders spektakulär, schließlich hatten sie ja nur die Folie für die Entfaltung der Sänger zu liefern. Einzig bei Cimarosa ist die Tendenz herauszuhören, etwas zum Ausdruck zu bringen, das in der Kehle von Sängern nicht mehr bestens aufgehoben wäre.

Musik als vollendete Klangrede

Cecilia Bartoli ergreift die Gelegenheit energisch beim Schopfe, alle Gestaltungsfreiheit zu nutzen, welche barocke Musizierpraxis dem Sänger einräumt und abfordert, damit aus den Noten ein Werk entstehen kann. Wenn auch ihr Russisch nicht so ganz idiomatisch klingt – da gibt es einen Weltstar, der immerhin das besser beherrscht –, wenn auch das Vibrato ihrer Stimme stärker geworden, gleichwohl nicht störender – die Gesangstechniken der Primadonnen beherrscht die Bartoli vollendet.

Die Stimme läuft locker und frei, die Koloraturen perlen scheinbar anstrengungslos und kaum sind Aspirationen, ihr oft kritisiertes Markenzeichen, zu merken. Technik erscheint vollends als Ausdrucksmittel, wie zur zweiten Natur der Sängerin geworden. Es ist die Kunst, die Kunst verbirgt.

Wie schon ihr Steffani-Projekt (JF 41/12) hat Bartoli auch dieses mit den Virtuosen des Ensembles I Barocchisti unter der Leitung von Diego Fasolis erarbeitet. Ihr Zusammenspiel bietet Rauheit ohne Grobheit, Zartheit ohne Verzärteltheit, Süße ohne Süßlichkeit, Klage ohne Larmoyanz, kurz: Musik als vollendete Klangrede. Allein schon, wie die Sängerin sich im Duett mit den obligaten Soloinstrumenten zurückzunehmen weiß, die Stimme instrumental führt, wo das Instrument singt, ist intensiven Nachhörens wert.

Catterina Gabrielli kehrte 1775 dem Zarenhof den Rücken und ging nach London, angelockt von einem höheren Gagenangebot. Vielleicht wäre es gar keine so schlechte Idee, Generäle singen zu lassen, und möglichst nur noch singen. Der Schaden hielte sich in Grenzen der Kunst. Kunst kann die Welt nicht reparieren, ist aber der Beweis, daß die Welt zu reparieren geht. Wenn Cecilia Bartoli singt, ist der Nutzen für uns alle grenzenlos.

Konzerttermine: Cecilia Bartoli präsentiert Stücke aus „St Petersburg“ am 28. Oktober in der Kölner Philharmonie. Im November tritt sie in Mannheim (10.), Baden-Baden (15.), Essen (17.), Hamburg (19.), Regensburg (22.), München (26.) und Wien auf (28.)

www.ceciliabartoli.de

Cecilia Bartoli St Petersburg Decca 2014) www.decca-classics.com

Foto: Koloratur-Mezzosopran Cecilia Bartoli: Ihre Technik erscheint vollends als Ausdrucksmittel

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