© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Ins Gedächtnis eingegraben
Ebola: Die häufig tödlich verlaufende Krankheit rührt an den Urängsten der Menschen vor Seuchen
Markus Brandstetter

Wenn ein Autofahrer von der Straße abkommt, gegen einen Baum knallt und auf der Stelle tot ist, dann bezeichnen wir diesen Unfall zwar als tragisch, aber nicht als heimtückisch, und wir begreifen das Geschehen auch nicht als das Resultat einer dunklen Gefahr, sondern können wissenschaftlich überprüfbare Gründe wie Trunkenheit, eine nasse Fahrbahn oder überhöhte Geschwindigkeit dafür verantwortlich machen.

Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn Menschen an einer Infektionskrankheit sterben, insbesondere an einer, die neu, unerforscht und unheilbar ist – auch wenn die reale Bedrohung durch eine solche Krankheit oft minimal ist und die meisten Menschen nie mit ihr in Berührung kommen und nie daran erkranken werden.

Das Ebola-Fieber, das seit Dezember 2013 in drei westafrikanischen Staaten wütet und dort bereits an die 5.000 Todesopfer gefordert hat, ist eine solche Krankheit. Obwohl die Seuche weit weg von der westlichen Zivilisation ausgebrochen ist und sie sich überhaupt nur deshalb so rasch ausbreiten konnte, weil Regierung, Behörden und Vertreter des Gesundheitswesens in Liberia, Guinea und Sierra Leone die Gefahr zuerst verkannt, dann geschlampt und endlich versagt haben, steigt die Angst auf der ganzen Welt, werden Reiseverbote, Quarantänemaßnahmen und unbegrenzte Hilfe für die betroffenen Staaten gefordert.

Wer sich anschaut, wie die Diskussion über Ebola geführt wird und daraus Schlüsse ziehen und Perspektiven aufzeigen will, der muß weit in die Vergangenheit zurückgehen und sich kundig machen, wie sehr Seuchen das kollektive Bewußtsein des Abendlandes geprägt haben.

Der griechische Historiker Thukydides (454–396 v. Chr.) war der erste, der in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges die grausig-faszinierende Schilderung einer Seuche gegeben hat. Seine Darstellung eines Typhus-Ausbruchs im Athen des Jahres 430 v. Chr. hat viele Schriftsteller nach ihm beeinflußt. Thukydides, der selber erkrankt war, hat beschrieben, daß die Seuche auch Gesunde wie aus heiterem Himmel befiel, zu Fieber, roten Augen, entzündetem Rachen und übelriechendem Atem führte. Der ganze Körper war von einem Flor kleiner Blasen und Geschwüre bedeckt, die Leidenden bekamen wäßrigen Durchfall, schliefen bei Tag und Nacht nicht mehr, litten ständig Durst. Am siebten oder neunten Tage gingen sie dann zugrunde.

Thukydides hat auch geschildert, wie die Seuche die Menschen veränderte: „Die Leichen lagen übereinander, sterbend wälzten sie sich auf den Straßen, jeder begrub einen anderen, wie er es eben konnte. Viele vergaßen alle Scham bei der Beisetzung aus Mangel am Nötigsten. Überhaupt kam in Athen die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf.“

Die Schilderung hat sich in das kollektive Gedächtnis Europas tief eingegraben. Die Gebildeten wußten nun, was den Menschen zustoßen konnte, und sie begriffen auch, daß nicht Ernährung, Gesundheitszustand oder Glaubensstärke für Seuchen verantwortlich sind, sondern eine unerklärliche Macht, die heimlich, unvorhersehbar, tückisch und unterschiedslos zuschlägt, starben doch die Reichen ebenso daran wie die Armen.

Die nächste große Gestalt, die eine Seuche zum Thema der Literatur machte, war der Florentiner Dichter Giovanni Boccaccio (1313–1375). Diesmal ist es die Pest, die im Jahr 1348 Florenz heimsuchte. Boccaccio berichtet aus eigener Anschauung: „Zu Anfang der Krankheit kamen bei Mann und Frau in den Achselhöhlen oder in den Leisten gleichermaßen Geschwülste zum Vorschein, die manchmal so groß wie ein Apfel, manchmal wie ein Ei wurden. Die Seuche gewann um so größere Kraft, da sie durch den Verkehr von den Kranken auf die Gesunden überging. Schon die Berührung der Kleider und Gegenstände, die ein Kranker angefaßt hatte, schien die Krankheit mitzuteilen.“

So sehr hat das Erleben der Pest Boccaccio geprägt, daß er sie im Dekameron, einer Sammlung von hundert Novellen, zum Auslöser der Rahmenhandlung macht: Zehn Florentiner Adelige fliehen im Frühjahr 1348 aufs Land, um der Pest zu entgehen. Dort erzählen sie sich zehn Tage lang zehn Geschichten pro Tag, um sich die Zeit zu vertreiben. Boccaccio verschweigt kein Detail der Pest: nicht die Straßen, die am Morgen von Toten bedeckt waren, nicht die Massengräber außerhalb der Friedhöfe, wo man die Leichen ohne Messe und Priester einfach hineinschichtete, und auch nicht, daß die Menschen Besitz und Arbeit im Stich ließen und öffentliche Ordnung und Sitten vollständig zusammenbrachen.

Über tausend Jahre hat die Pest in Europa gewütet und das Denken über Seuchen wie keine andere Krankheit beeinflußt. Die Pestepidemie von 1348 kann als eine Demarkationslinie zwischen Mittelalter und Neuzeit gelten.

Als 1772 der letzte Pestkranke in Marseille starb, war diese Seuche in Europa zwar überwunden, aber das Ende der Seuchen bedeutete dies nicht. Mitte Juni 1892 kehrte der Pianist und Dirigent Hans von Bülow aus Italien nach Hamburg zurück und geriet mitten in eine Cholera-Epidemie, die das öffentliche Leben zum Stillstand brachte. Im September 1892 starben in Hamburg 561 Menschen an der Cholera. Robert Koch, der Entdecker des Tuberkuloseerregers, schrieb an den Kaiser: „Eure Hoheit, ich vergesse, daß ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.“ Als die Seuche im Oktober 1892 vorüber war, waren in Hamburg 16.956 Menschen erkrankt und 8.605 davon gestorben.

Der Kampf gegen die Infektionskrankheiten war einer der ersten, den Ärzte, Chemiker und Biologen in der westlichen Welt zu führen begannen, als die Mittel dafür zur Verfügung standen. Der weitgehende Sieg über Pest, Tuberkulose, Cholera, Typhus, Diphterie und Polio gehört zu den größten Errungenschaften der modernen Zivilisation. Aber er war nur möglich, weil Jahrtausende von Epidemien und Millionen von Opfern sich durch die Werke von Historikern, Dichtern, Bildhauern und Malern unauslöschlich in das Gedächtnis Europas eingebrannt haben.

Die Natur ist dem Menschen oft schrecklich, aber seine Kultur hilft ihm, diese Schrecknisse zu besiegen. Der ungebremste Ausbruch von Ebola in drei armen, unterentwickelten und von Stammes- und Bürgerkriegen verheerten Ländern zeigt, daß das Wesentliche nicht die Schrecken der Natur, sondern die kulturelle Reaktion darauf ist. Deshalb ist es um so verwerflicher, daß die in Europa und den USA ausgebildeten administrativen Eliten dieser afrikanischen Länder – die Präsidentin Liberias ist Harvard-Absolventin, der Präsident Guineas war Professor an der Pariser Sorbonne – keine Vorkehrungen gegen Ebola getroffen und ihre Bevölkerung im Stich gelassen haben. Der Ruf nach dem Westen ist verständlich, und wir sollten helfen, wo wir können, aber das kann nicht über das Versagen der betroffenen Länder hinwegtäuschen.

Foto: Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ in Schutzanzügen in Monrovia, der Hauptstadt von Liberia: Die Eliten haben geschlampt und versagt

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