© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Gesammelte Schlagkraft
Matthias Schöning hat ein trotz seiner Qualitätsunterschiede in der Summe lesenswertes Handbuch über Ernst Jünger herausgegeben
Robert Rielinger

Im Jahr 1978 mit Karl Heinz Bohrers „Ästhetik des Schreckens“ und 1990 mit Martin Meyers „Ernst Jünger“ begann die Wissenschaft sich für Jünger zu interessieren. Matthias Schönings aktuelles Handbuch steht nicht ganz in dieser Tradition. Bohrer wie auch Meyer sind zwar Wissenschaftler, waren aber Chefs konservativer Feuilletons und schrieben Monographien. Das von Schöning edierte Handbuch markiert eine Wende in der wissenschaftlichen Rezeption von der Privatgelehrtheit zur institutionellen Wissenschaft.

Diese Wende beinhaltet einerseits Anerkennung für den deutschen Jahrhundertdichter entgegen dem herabsetzenden Diktum des Germanisten Peter Wapnewski vom „verfehlten hohen Ton“ (1974). Andererseits ist der „Anarch“ Jünger nicht restlos institutionskompatibel im Sinne eines Klassikerhandbuchs. Dem stehen entgegen: die Ambivalenz seiner Weltkriegstagebücher, die Eindeutigkeit der nationalen kämpferischen Publikationen der frühen Jahre, die spenglerschen Verfallsallegoresen von den „Marmorklippen“ über „Heliopolis“ bis „Eumesvil“, das unerschütterliche Gottvertrauen in Natur und Käfer samt später Konversion nach lebenslangem Katholisieren – er wollte schon den erstgeborenen „Ernstel“ katholisch taufen lassen – und manches mehr. Unter dieser Voraussetzung bewältigen die Handbuchautoren ihre Aufgabe recht unterschiedlich.

Das Nachzeichnen der biographischen Linien in zwei einleitenden Skizzen (Schöning und Ingo Stöckmann) ist gelungen. In der chronologischen Darstellung der Werke – unter anderem „In Stahlgewittern“, Synopse oder Herausgeber Helmuth Kiesel mit einem souveränen Beitrag – zeigen sich erhebliche Qualitätsunterschiede. So erfährt der Leser in Ralf Klausnitzers Beitrag über die „Strahlungen“ nur vage von Tobias Wimbauers biographischer und poetologischer Aufschlüsselung der skandalisierten Burgunderglasszene im besetzten Paris, einem wesentlichen Beitrag zu den konkreten Lebensumständen Jüngers und der literarischen Technik der Strahlungen. Der Leser muß sich da an die originale Arbeit halten, die im Literaturverzeichnis genannt wird.

Was exemplarisch zu den „In Stahlgewittern“- und „Strahlungen“- Beiträgen zu sagen ist, gilt auch für kleinere oder weniger bekannte Werke. Uwe Ketelsens Beitrag zum „Wäldchen 125“ führt unter Bezugnahme auf Karl May, Lettow-Vorbeck und Graf Luckner aus: „Jüngers Diarist übermalt deren nationalistisch-draufgängerische Heldenbilder nietzscheanisch, sozialdarwinistisch und existentialistisch.“ Die Lesart lautet: nationalistisch ist negativ; Karl May et al sind primitiv: die Summe davon ist Ernst Jünger. Fazit: Jünger übertüncht ansprüchlich eine negative und primitive Grundierung.

Gregor Streims zwei Beiträge zum „Abenteuerlichen Herzen“ in der ersten und zweiten Fassung hingegen greifen hinsichtlich der stilistischen Mittel Bohrers These von einem deutschen Surrealismus auf, bringen diese „Ästhetik des Schreckens“ (erste Fassung) mit Jüngers damaligen national-revolutionären Umsturzzielen in Verbindung und zeigen die Verschiebung der politischen zu einer naturorientiert-kontemplativen Orientierung in der zweiten Fassung.

Für die häufig nicht primär zugängliche Begrifflichkeit wie „Desinvolture“, konzeptionelle Systematik wie „Rausch“ und werkbiographisch prägende Freundschaften (so mit Heidegger oder Carl Schmitt) wird mit „Begriffen und Konstellationen“ ein besonderer Zugang geboten.

Das schafft für „Desinvolture“ über Streims Beiträge und Danièle Beltrans detaillierte Begriffsklärung synergistisch neue Verständnisachsen. In der Zusammenschau des Beitrags zum „Arbeiter“ (Jürgen Brokoff) und dem Beitrag zu Heidegger (Peter Trawny) gelingt dies nicht. Brokoff fördert liebevoll Fundstücke wie die „Kursbuchverliebtheit“ des Textes – gibt es da eine Linie zu Enzensbergers 68er-Zeitschrift? – zutage und versteht den Essay anthropologisch als weiterhin aktuelle Globalisierungs- und Entfremdungskritik mit lebenslangem Austausch Jünger-Heidegger. Trawny vermag nicht den gemeinsamen Bezugspunkt, die Entfremdungslehre Lukacs’ und den Versuch eines konservativen Gegenentwurfs zu erfassen. Dieser Bezug ist 1973 von Lucien Goldmann dargelegt worden und Trawny wohl unbekannt. Stattdessen fehldeutet Trawny beider Debatte gemäß dem von ihm bevorzugten Muster gegenüber Heidegger (JF 18/14) als Schulddiskurs. Dieser Beitrag unterschreitet somit deutlich das gute Niveau des nicht nur für Jünger-Fans lesenswerten Handbuchs.

Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2014, gebunden, 439 Seiten, 69,95 Euro

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