© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Die erste und die zweite Natur
Nachbetrachtung zur Debatte um das Inzest-Verbot: Der Staat muß das Lebensdienliche fördern
Karlheinz Weissmann

Wirft man einen Blick auf die Debatte zum Vorschlag des Ethikrates, das Inzest-Verbot aufzuheben (JF 41/14), überrascht die fast einhellige Ablehnung. Selbstverständlich gab es linke Plädoyers für „grenzenlose Liebe“, aber in der SPD blieb man stumm, das von einem Sozialdemokraten geführte Justizministerium sah keinen Handlungsbedarf, und die Kirchen sowie die Unionsparteien äußerten sich verhältnismäßig klar gegen die Aufhebung des Paragraphen 173 Strafgesetzbuch (StGB), der den „Beischlaf zwischen Verwandten“ unter Strafe stellt.

Die Argumentation lief allerdings immer darauf hinaus, daß die Freigabe des Inzests – gemeint ist nur der zwischen volljährigen Geschwistern – zu „Rollenunsicherheit“ beitrage, zur Destabilisierung der Familie führe und deren Ordnung zu schützen sei. Auf die moralische Verwerflichkeit und die Notwendigkeit, diese auch durch die Rechtsnorm festzustellen, mochte sich keiner berufen. Im Zweifel ging es um das Wohl irgendwelcher einzelner, nicht um die Sittenordnung, denn, wie ein Jurist an prominenter Stelle formulieren durfte: „… jede Ethik ist nur das kontingente Produkt ihrer Zeit, auch wenn sie anderes behaupten mag“ (Klaus Ferdinand Gärditz).

Die dahinterstehende Vorstellung von der Gemachtheit aller Ethik erfreut sich unter der Herrschaft von Konstruktivismus und Dekonstruktivismus allgemeiner Zustimmung. Faktisch besteht heute ein sehr weitgehender Konsens darüber, daß moralische Vorschriften einfach ein Reflex von Klima und Umwelt, Gesellschaftsordnung und Erziehung, Unaufgeklärtheit und nützlicher Fiktion sind. Das besagt aber nichts über die Tragfähigkeit solcher Annahmen.

Sicher kann man mit Arnold Gehlen sagen, daß das Verbot des Inzests neben der Aufgabe des Kannibalismus und der Totenbestattung zu den prometheischen Taten gehörte, die der menschliche Geist in der Frühzeit hervorgebracht hat. Aber schon durch diesen Hinweis verschiebt sich die Sichtweise, wird die Bestrafung für eine sexuelle Beziehung zu eigenen Familienmitgliedern als Teil der „zweiten Natur“ des Menschen erkennbar. Soweit die universale Natur Geltung hat, wird man kaum einen isolierten intellektuellen Akt annehmen dürfen. Eher das Ergebnis „ineinandergreifender Prozesse“ (Edward O. Wilson) von Evolution und Geschichte.

Wie die abgelaufen sind, wie also zuerst das männliche Oberhaupt der Familie daran gehindert werden konnte, sich alle Frauen gefügig zu machen, die in seiner unmittelbaren Verfügung standen, bleibt schwer zu sagen. Sicher ist die Spekulation der Psychoanalyse über den Zusammenhang von Vatermord, Schuldbewußtsein und Inzestverbot abwegig, ohne daß damit die Bedeutung von Sexualneid und Eifersucht bestritten würde. Auch die Beobachtungen an primitiven Völkern liefern keinen direkten Aufschluß, denn sie sind nicht geschichtslos, sondern stehen schon am Ende einer sehr langen Überlieferung. Als gesichert kann offenbar nur gelten, daß genetische Disposition, individueller Abscheu und soziales Tabu effektiv zusammenwirkten, um die „Blutschande“ zu bekämpfen, die „Exogamie“, also die sexuelle Bindung an Außenstehende zu begünstigen und Heiratsregeln zu schaffen.

Für diese Verknüpfung der „zweiten Natur“ mit der „ersten“, biologischen, spricht der „Westermarck-Effekt“, der am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte Zusammenhang zwischen dem gemeinsamen Heranwachsen von Familienmitgliedern und dem Fehlen sexueller Attraktion einerseits, die immer religiös gefärbte Begründung für das Inzest-Verbot andererseits. Die Bestimmung von Verwandtschaft unterlag und unterliegt dabei stärkeren oder schwächeren Variationen und wurde gelegentlich sogar dann behauptet, wenn sie keinen biologischen Sinn hatte (bei Taufpate und Taufkind, Stiefvater und Stieftochter, Schwager und Schwägerin), aber in jedem Fall umfaßt sie den Kreis der Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern.

Zu betonen bleibt, daß die Unterdrückung des Inzests in jedem Fall älter ist als die rationale Einsicht in dessen Negativfolgen (nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen und Tieren), etwa das überdurchschnittlich häufige Auftreten von Mißbildungen bei den Nachkommen. In keiner frühen Kultur wurde ein derartiger Zusammenhang angenommen.

Bezeichnenderweise gab es zahlreiche Mythen, die den Inzest zwischen Urmenschen oder Göttern akzeptierten; die Wanengötter Freyr und Freya, die die Germanen verehrten, waren gleichermaßen Geschwister und Ehegatten. Entsprechende Ausnahmeregelungen existierten auch für irdische Eliten. Bekannt sind die Geschwisterehen der Pharaonen, aber ähnliche Praktiken fanden sich außerdem im antiken Persien, bei den Inka-Herrschern, dem Adel Hawaiis sowie verschiedenen schwarzafrikanischen Dynastien. Hier spielten Vorstellungen von göttlicher Abstammung, Blutreinheit oder Ebenbürtigkeit eine entscheidende Rolle, die gleichzeitig erklären, warum es sich um Konzepte handelte, die keinesfalls auf die Untertanen übertragen wurden. Die Relativität des Inzestverbots kann man von hier aus jedenfalls nicht begründen.

Das ist auch deshalb zu betonen, weil die Initiative des Ethikrates wohl nicht die letzte ihrer Art war. Man wird für weitere Vorstöße auf die faktische Unterschiedlichkeit der juristischen Regelungen in den einzelnen Staaten hinweisen, aber vor allem die Tendenz einer Gesellschaftspolitik nutzen, die auf die konsequente Entfremdung des Menschen von sich selbst zielt. Gemeint ist damit ein Projekt, das die „erste“ wie die „zweite Natur“ des Menschen leugnet, weder seine biologische Basis noch seinen kulturellen Überbau als maßgebend – mithin als „Normalität“ – anerkennen will.

Seit der Aufklärung waren es immer solche Erwägungen, die den Ausschlag für die Beseitigung des Inzest-Verbots gaben, und mittlerweile ist der Prozeß im Hinblick auf das Sexualstrafrecht und die Durchsetzung der Gender-Ideologie bereits sehr weit fortgeschritten. Ein Blick nach Frankreich belehrt darüber, was wir zu erwarten haben – oder um eine Prognose des Philosophen Panajotis Kondylis zu zitieren: „Wo keine Familie existiert, da steht dem Geschlechtsverkehr aller mit allen nichts im Wege.“

Kondylis verwies auch darauf, daß der chinesische Begriff für Inzest aus zwei Zeichen zusammengesetzt sei; das eine stehe für „Unordnung“, das andere für „soziale Beziehung“. Tatsächlich gehört die Ordnung der sozialen, insbesondere der sexuellen Beziehungen zu den zentralen Aufgaben jedes funktionstüchtigen Gemeinwesens.

Wenn heute mächtige Einflußgruppen daran arbeiten, den Menschen ihre „Vorurteile“ im Hinblick auf alle möglichen Aspekte der Sexualität auszutreiben, dann dient das auch dem Ziel, diese Funktionstüchtigkeit zu sabotieren. Denn „Vorurteile“ sind im konkreten Fall nichts anderes als der Rest einer vorreflexiven, gleichwohl lebensdienlichen Einstellung zu den Dingen. Deren Abbau bringt kaum ein Mehr an Freiheit oder Selbstbestimmung oder Aufgeklärtheit, im Regelfall führt er zu Desorientierung und Manipulierbarkeit.

Das kann aus der Sicht einer utopischen Weltanschauung oder einer zynischen Sozialtechnik durchaus wünschenswert scheinen, wird sich aber auf längere Sicht als fatal erweisen. Der Staat muß die längere Sicht zu seiner eigenen machen. Das heißt auch, daß es bei der Frage des Inzest-Verbots nicht um eine Nebensache geht, zu der man sich neutral verhalten, auf das Weiterwirken eines Tabus setzen oder die Entscheidung auf die Individuen abwälzen könnte. Der Staat hat das Lebensdienliche zu fördern und das Lebensfeindliche zu hindern. Der Inzest ist lebensfeindlich.

 

Inzest-Verbot nach § 173 StGB

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen. (…)

Foto: Peter Paul Rubens (1577–1640), Lot und seine Töchter‚ Öl auf Leinwand, um 1610: Inzest mit dem Vater

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