© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Bar jeder Willkommenskultur
Der Journalist Olaf Ihlau reflektiert nach 70 Jahren das Flüchtlingsschicksal seiner Königsberger Familie und ihren schweren Neuanfang im Bayern der Nachkriegszeit
Gernot Facius

Es ist der 30. August 1944: die Nacht, als das alte Königsberg im Feuersturm britischer Bomber verglüht. Außer einem schlichten Handwagen, braune Bretter auf vier eisenbeschlagenen Holzspeichenrädern mit wuchtiger Deichsel, vermag der Großvater des Erzählers nichts aus den Flammen zu retten. Mit dem wackligen Gefährt verläßt seine Familie die Stadt Kants in Richtung Westen. Exakt 70 Jahre später wird der „Bollerwagen“ zu einem Kompositionselement des jüngsten Buches von Olaf Ihlau. Wie viele aus der Generation des 1942 geborenen Autors hat der ehemalige Spiegel-Auslandschef und Autor („Weltmacht Indien“, „Minenfeld Balkan“) im vorgerückten Alter seine Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Jugend im Nachkriegsdeutschland zwischen Buchdeckel gepackt. Der Schüler des Marxisten Wolfgang Abendroth geriet nach einem Zwischenspiel bei einer Studentenverbindung tief ins linke Fahrwasser, war Mitglied des SDS und gut vernetzt mit Leitfiguren der APO.

Das erklärt so manche zornige, auch indiskrete Bemerkung über das NS-Mitläufertum der Eltern. Doch muß man Ihlau zugute halten, daß er an einigen Stellen von der lange vorherrschenden Methode abweicht, Flucht und Vertreibung zu relativieren. Er verschweigt nicht den Tagesbefehl an die Soldaten der Roten Armee in Ostpreußen: „Geh mit unauslöschlichem Haß gegen den Feind vor!“, ebensowenig Ilja Ehrenburgs Aufruf „Töte!“, und er erwähnt die Greueltaten an Zivilisten in Nemmersdorf im Oktober 1944, deren Schicksal zum Synonym für Abertausende werden sollte.

Der Bollerwagen der Königsberger rollt über den Ku’damm in Berlin, er leistet Fuhrdienste in Hannover und landet schließlich im bitterkalten März 1946 im oberbayerischen Traunstein. Flüchtlinge sind nicht sonderlich willkommen, mit ihnen brechen fremde Lebensweisen und protestantische Glaubenshaltungen in den katholisch-bäuerlichen, später von CSU und Bayernpartei dominierten Chiemgau ein. „Willkommenskultur“? Fehlanzeige. „Die Preußen, dieses Zeugs, und die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden und die Bauern müssen dabei tatkräftig mithelfen“, tönt der Bayernpartei-Mitbegründer Jakob Fischbacher. „Am besten schickt man die Preußen gleich nach Sibirien.“ Immerhin, es kommt zu einigen Protesten gegen solche Sprüche. Gleichwohl bleibt Fischbachers Haus von Zwangseinquartierungen verschont.

Mit dem Bollerwagen geht die kleine Familie auf Hamsterfahrt, meist erfolglos. Manchmal lassen Bauern ihre Hunde auf die Flüchtlinge los. Anmerkung von Ihlau: „Erzählte man das später Franz Josef Strauß oder Edmund Stoiber, bekamen die Herren rote Ohren.“ Es empfahl sich also, den Satz nachzuschieben: „Aber in Norddeutschland war es wohl kaum anders.“ Der Autor kann freilich auch Amüsantes berichten.

Früh hat er gelernt, sich als Außenseiter zu behaupten. Am liebsten kickt er mit Gleichaltrigen zerbeulte Dosen über das Traunsteiner Kopfsteinpflaster. Vom nahen Priesterseminar tauchen des öfteren zwei junge Männer in Schwarz auf, schnappen sich die Büchse und schieben sie nach einigem Gerangel feixend zurück. Es sind die Ratzinger-Brüder. Mit „Fug und Recht“ behauptet Olaf Ihlau, er habe mit dem späteren Papst Benedikt Fußball gespielt.

Seine Geburtsstadt hat der Königsberger unzählige Male besucht, es gelang ihm sogar, die Eltern zu einem „Heimwehtrip ohne Groll“ zu bewegen. Er sieht Rußlands „westlichste, immens korrupte“ Stadt auf der Suche nach sich selbst: „Sie leidet wie kaum ein zweiter Ort im Imperium des Wladimir Putin.“ Ihr wünscht er die Abwendung von der klassischen Realpolitik nationaler Souveränität hin zu einem „postsouveränen Weg“. Aber dies müsse langsam wachsen, „man darf es nicht erzwingen wollen“.

Und der Bollerwagen? Er macht den Umzug der Familie erst nach Köln und dann ins Bergische Land mit. Heute, nach dem Tod der Eltern, steht er „würdevoll“ unter einem phönizischen Wacholderbaum im Garten von Olaf Ihlaus Finca auf Ibiza. Vorläufige Endstation. „Besucher sind gerührt. Hören sie die Geschichte des Wägelchens“, schreibt der Verfasser. „Es wird dort nicht bleiben, sollte die Zeit auf Ibiza einmal vorbei sein. Versprochen.“

Olaf Ihlau: Der Bollerwagen. Unsere Flucht aus dem Osten. Siedler Verlag, München 2014, gebunden, 192 Seiten, 16,99 Euro Literaturgeschichte

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