© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Frisch gepresst

Westside Story. Wem es danach gelüstet, sich die „Tagesschau“ der letzten 50 Jahre nacherzählen zu lassen, wer die welthistorische Chronik von „Keesings Archiv der Gegenwart“ in einer auf 1.200 Dünndruckseiten verdichteten Fassung parat haben möchte, der stelle sich Heinrich August Winklers dritten Band seiner „Geschichte des Westens“ ins Regal. Wer hingegen eine analytisch tiefschürfende Aufbereitung des Fortgangs der Welthistorie zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks begehrt, sollte sein Geld nicht für eine groteske Stoffhuberei im „… und dann“-Stil ausgeben. Bei so niedrig liegender Latte gerät nämlich schon die Darstellung des Bonner Machtwechsels von 1969 zur intellektuellen Weihestunde, wenn Winkler verrät, Willy Brandt sei mit 251 der abgegebenen 495 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt worden. Toll! Drei Jahre hat der Berliner Emeritus für diesen von seinen Schmeichlern zum „Meisterwerk“ (Ulrich Herbert in der FAZ) verklärten, Archivfron meidenden, lieber Sekundärliteratur kompilierenden Buch-Whopper benötigt. (dg)

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. C. H. Beck, München 2014, gebunden, 1.258 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro

 

Juden und Bolschewismus. Vor fast 30 Jahren wies Ernst Nolte im „Historikerstreit“ auf den immensen Stellenwert des „Schreckbildes“ vom „jüdischen Bolschewismus“ hin. Bestenfalls erntete Nolte Häme für diesen vermeintlich naiven Rückgriff auf das Repertoire der „Goebbels-Propaganda“. Seitdem hat sich zur Verblüffung von Noltes Kritikern das Studium der Beziehungen zwischen dem Judentum und der Partei Lenins zum eigenen Forschungszweig entwickelt, freilich außerhalb Deutschlands. Auszunehmen davon ist neben Johannes Rogalla von Bieberstein der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der über das russische Exil im Mitteleuropa der 1920er arbeitete und dabei am Rande auch jüdische Intellektuelle berücksichtigte, die aus dem von der Tscheka bewachten „Paradies der Arbeiter und Bauern“ entkommen konnten und im Berliner Exil auf akademisch hohem Niveau über das Verhältnis des jüdischen Volkes zum Bolschewismus disputierten. Die wichtigsten Texte zu dieser Debatte legen Schlögel und Karl-Konrad Tschäpe jetzt, umrahmt von einer ausführlichen Einleitung und einem biographischen Anhang, erstmals in deutscher Übersetzung vor. (kf)

Karl Schlögel, Karl-Konrad Tschärpe (Hrsg.): Die russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014, gebunden, 762 Seiten, 49,90 Euro

 

Kaiserreich. Manche Bücher wirken schon bei ihrem Erscheinen so gestrig, daß man zur Sicherheit unwillkürlich auf das Erscheinungsjahr schaut. So auch beim neuen Spiegel-Sammelband über das Kaiserreich. Während vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges die Rolle Deutschlands in der internationalen Forschung derzeit neu gewichtet wird, fallen die Autoren des Bandes in überkommende Erklärmuster zurück. Viel ist dabei von „Säbelrasseln“, „Militarismus“ und „Untertanengeist“ die Rede. Daß der britische Historiker John C. G. Röhl sein von persönlichen Ressentiments geprägtes, in der Forschung indes längst überholtes Zerrbild Kaiser Wilhelms II. ausbreiten darf, verwundert daher nicht. (ms)

Uwe Klußmann, Joachim Mohr (Hrsg.): Das Kaiserreich. Deutschland unter preußischer Herrschaft. DVA, München 2014, gebunden, 272 Seiten, 15,99 Euro

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