© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Entzaubertes Fräuleinwunder
Mißglücktes Romandebüt: Judith Hermanns „Aller Liebe Anfang“ erfüllt nicht die Erwartungen
Felix Dirsch

Judith Hermann wurde 1998 mit ihrer Kurzgeschichtensammlung „Sommerhaus, später“ bekannt, die stilistisch exzellent Alltagswelten beschreibt. Die Literaturkritik äußerte sich größtenteils hymnisch, auch der mittlerweile verstorbene Marcel Reich-Ranicki. Aus späterer Sicht werden diese Texte sicherlich herangezogen werden, wenn es darum geht, das Lebensgefühl der jungen Generation der späten 1990er Jahre zu analysieren, also der Zeit kurz vor „Nine Eleven“.

Obwohl Hermann einige Nachfolgearbeiten vorgelegt hat, die ihren Ruf als Begründerin des sogenannten „Fräuleinwunders“, dem Autorinnen wie Juli Zeh und Jenny Erpenbeck angehören, untermauern sollten, fehlt bisher ein weiterer großer Wurf. „Nichts als Gespenster“, ebenfalls ein Erzählband, reichte an den Vorläufer nicht heran. Jetzt wollte die Berliner Schriftstellerin in Form eines Romans an frühere Erfolge anknüpfen und erneut einen Bestseller publizieren.

Hermanns erster Roman widmet sich alltäglichen Schilderungen und kehrt formal zu erprobten Erzählweisen zurück. Die Krankenpflegerin Stella, eine Frau Mitte bis Ende Dreißig, bewohnt mit Ehemann Jason und Tochter Ava ein für die amerikanische Mittelschicht typisch großes Haus mit einem kleinen Garten. Dort ist es angenehm zu leben, aber irgendwie doch langweilig. Sie geht gewissenhaft ihren Pflichten nach und besucht die Patienten, oft Schwerstpflegebedürftige, kümmert sich darüber hinaus auch intensiv um ihre Tochter. Fast könnte man meinen, die Protagonistin ist froh, daß die Öde des Tagaus, Tagein durch einen Unbekannten, den sie Mr. Pfister nennt, durchbrochen wird. Er umschleicht das Haus, steht oft an der Türe, fast jeden Tag zur selben Zeit. Der Stalker wohnt in der gleichen Straße. Immer wieder stört er, lenkt sie ab.

Die Handlung ist voraussehbar

Die Geschichte ist flach, weil die Handlung, trotz eingebauter psychologischer Elemente, voraussehbar ist. Es ist kaum zu vermeiden, daß Stella die Polizei aufsucht und Mr. Pfister anzeigt. Ebenfalls ist wenig überraschend, daß sich der Ehemann der Sache annimmt und den Belästiger verprügelt, der sich am Ende als psychisch schwer lädiert herausstellt. In dieser schwierigen Lage ist Jasons Handeln nicht unbedingt ungewöhnlich.

Wertet man das Geschehen aus der Seelenperspektive, so kann man den Eindringling auch als Verkörperung der zunehmend fragilen Beziehung von Jason und Stella deuten, die (je länger, desto mehr) ans Tageslicht tritt. Zugunsten der Verfasserin ist zu bemerken: Die in narrativer Hinsicht schlichte Darstellung über die unvermeidbare Mehrdeutigkeit menschlicher Begegnungen läßt den Vorteil erkennen, daß sie nicht weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Manche Szene wirkt wie künstlich in die Länge gezogen.

Anders als in ihrem Erstling mutet die Sprache holprig-unbeholfen an und ist alles andere als elegant. Der Leser hat streckenweise den Eindruck, das Buch einer Autorin vor sich zu haben, die auf der Suche nach ihrem Stil ist. Etliche Sprachbilder sind schief und dürfen als mißlungen eingestuft werden. Um ein von Marcel Reich-Ranicki auf Botho Strauß’ Werk „Der junge Mann“ gemünztes Wort auf Hermann anzuwenden: Sie kann schreiben, aber nicht erzählen.

Ärgerlich ist auch die fehlende gesellschaftspolitische Perspektive, die in den Figuren einer anderen prominenten Autorin ihrer Generation, Juli Zeh, weitaus deutlicher zum Vorschein kommt. Bei Stella spielen Sterbebegleitung, Klimaproblematik und Kriege zwar eine Rolle, werden jedoch nur kurz angesprochen. Sie verbleiben allzusehr in der Ego-Perspektive der Hauptfigur.

Hermann hat ihre Karriere auf sehr hohem Niveau begonnen, ist aber dann mehr oder weniger abgefallen. Die Kritik nimmt das meist übel. Das zeigt sich auch in den Besprechungen der neuesten Veröffentlichung. Am deutlichsten ist der Verriß von Edo Reents in der FAZ (29. August): „Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen.“

Ist es der mittlerweile vierundvierzigjährigen Judith Hermann vor sechzehn Jahren noch gelungen, ein „Fräuleinwunder“ zu initiieren, bewirkt die Mutter eines Sohnes heute kein „Frauenwunder“ mehr. Auf die Verkaufszahlen hat dies kaum einen Einfluß. Hier hat der Name auf dem Buchdeckel schon kurze Zeit nach dem Erscheinen gezogen. Trotz etlicher Einwände ist es nur fair, der so hoffnungsvoll gestarteten und inzwischen mehrfach geehrten Literatin einen weiteren Versuch auf diesem Feld zuzugestehen.

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, gebunden, 224 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Judith Hermann: Auf der Suche nach ihrem Stil

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