© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Alles Private ist Diebstahl
Schöne neue Netzwerk-Realität: Dave Eggers’ Roman „Der Circle“ stellt im Internet- und Überwachungszeitalter Warnschilder auf
Felix Dirsch

Über einen längeren Zeitraum hinweg debattierte die deutsche Literaturkritik darüber, ob es gelingen kann, einen Roman zu verfassen, der in der Lage ist, die entscheidenden Tendenzen der Gegenwart literarisch darzustellen und auf den Punkt zu bringen. Thomas Mann („Der Zauberberg“) und Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“) haben dieses Ziel in Form zweier Meisterwerke auf eindrucksvolle und nachwirkende Weise erreicht.

Nun ist unsere Welt deutlich komplexer und komplizierter als vor über acht Jahrzehnten. Schon deswegen ist es heute mehr denn je schwierig, ein solches Vorhaben umzusetzen. Dennoch gibt es immer wieder Versuche in diese Richtung. Der wichtigste Schlüssel zum Verständnis des Zusammenlebens in der heutigen globalen Welt ist die Technik, die Information und die omnipräsenten Netzwerke. Insofern verwundert es nicht, daß eines der meistdiskutierten belletristischen Werke der letzten Jahre diese Problematik zum Inhalt hat. Der Rummel um die Schrift kann vor dem Hintergrund der Wikileaks- und NSA-Debatte kaum überraschen.

Ein Leben außerhalb der Firma erscheint unmöglich

Dave Eggers’ „Der Circle“ wurde schon vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung als herausragendes Ereignis auf dem Buchmarkt gehandelt. Doch die ersten Reaktionen waren, entgegen vieler Vermutungen, durchaus geteilt.

Worum geht es? Die Protagonistin Mae Holland schafft nach einer Beschäftigung in einem Gaswerk den Sprung in den Internetriesen „Circle“. Ihm ist es gelungen, die ehemals führenden Giganten auf diesem Sektor, von Twitter bis Google, zu beerben. Die neue Mitarbeiterin dieser singulären Datenkrake erreicht nach einer Zeit der Einarbeitung hervorragende Leistungen innerhalb dieser technischen Elitetruppe und landet aufgrund hohen Einsatzes beim internen Ranking ganz oben. Ihr Leben dreht sich zunehmend nur noch um die Firma. Ein Leben außerhalb erscheint unmöglich. Zeitweise kommuniziert sie mit vier Bildschirmen und verarbeitet eine Unmenge an Informationen. Bahnbrechend wirkt ein „Tool“ namens TruYou, das die Zahl der Identitäten des „Users“ auf eine reduziert, ihn also noch stärker „gläsern“ macht, als es vorher der Fall war.

Im Laufe der Zeit merkt Mae, daß sie vom „Circle“, fast eine totalitäre Macht, völlig in Beschlag genommen wird. Dieser regelt alles und übernimmt sogar die Versicherung ihres kranken Vaters. Selbst sexuelle Erlebnisse werden von den Informationssystemen erfaßt und drohen Mae zu kompromittieren. Kameras sind allgegenwärtig. Transparenz ist das Zauberwort, alles Tun läßt sich zurückverfolgen und belegen. Der „große Bruder“ ist stärker präsent, als je für möglich gehalten werden konnte. Als Mae außerhalb des Campus Kajak fährt, landet sie umgehend vor dem Gericht des „Circles“ und sieht sich bohrenden wie bedrohlichen Nachfragen ausgesetzt.

Überall wird das Motto des „Circ-le“, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, verkündet: „Geheimnisse sind Lügen, Teilen ist Heilen, Alles Private ist Diebstahl“. Der Roman wimmelt vor neumodischen „Feeds“, „Viewern“, „Zings“, „Clouds“ und ähnlichem Fachchinesisch. Freilich bleibt auch Raum für philosophische Einsichten, etwa für die, welche besagt: Die alte Protagorassche Überlieferung, Menschen seien das Maß aller Dinge, werde erst unter Netzwerk-Bedingungen eingelöst, da der Mensch mittels der zur Verfügung stehenden Tools alles messen könne.

Das Recht auf Anonymität einfordern

Der Roman schließt mit einem der lesenswertesten Dialoge des Buches: dem zwischen Mae und ihrem Liebhaber Kalden, der die „Rechte der Menschen im digitalen Zeitalter“ einfordert, vor allem das Recht auf Anonymität. Kalden weiß, warum er den „Circle“ zerschlagen will. Schließlich sieht Mae, die streckenweise wie datentechnisch umerzogen wirkt, klar. Sie bemerkt die Berechtigung dieses Anliegens. Am Ende ist es der Leser, der ratlos zurückbleibt und zum Nachdenken gezwungen wird.

Wer Eggers’ Roman angemessen würdigen will, wird ihn weder als Meisterwerk noch als flach und mit vorhersehbarer Handlungsfolge konstruiert betrachten. Weder werden permanent himmlische Höhen erreicht, noch fällt er in literarische Untergeschosse. Gewiß erweist sich der Vergleich mit George Orwell oder Aldous Huxley als übertrieben. Dazu ist das dystopische Prognosepotential einfach zu gering.

Die Schockwirkungen, die die beiden angeblichen Vorläufer einst verbreiteten, erreicht der 43jährige Gegenwartsschriftsteller nicht annähernd. Die aufgestellten Warnschilder vor dem Verlust des Privaten und der digitalen Gehirnwäsche, die immer wieder hochgehalten werden, sind in der realen Alltagswelt zu sehr gegenwärtig; von einem Blick in die Zukunft unseres Planeten kann also keine Rede sein.

Andererseits wäre es ungerecht, an Eggers’ Stilistik allzusehr herumzukritteln. Mögen außer der Protagonistin auch die Charaktere der übrigen Figuren – sie heißen Francis, Kalden, Mercer oder Bailey – wenig konturiert sein: Man verfolgt Maes Schicksal gerne die Stationen ihrer „Circle“-Karriere hindurch, wenngleich Wiederholungen und Redundanzen gelegentlich nerven. Ganz ohne Trivialitäten kommt der Roman nicht aus. Die Diskussionen über ein größeres Veggie-Angebot im „Circle“ erinnern, um nur ein Beispiel zu nennen, eher an öde Kontroversen der wie eh und je dirigistischen Grünen als an das Dekor eines großen Romans.

Alle diese Einwände ändern jedoch nichts daran, daß Eggers’ Buch eine bemerkenswerte Schrift darstellt, mit der sich eine Auseinandersetzung lohnt.

Dave Eggers: Der Circle. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, gebunden, 559 Seiten, 22,99 Euro

Foto: Google-Büro im Finanzzentrum in Shanghai (2012): Der „Circle“ ist ein Internetriese der Zukunft

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