© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Das hier sind auf jeden Fall welche – ääh, da macht man sich dreckig“, sagt „Sascha Arschloch“ (Wolf Biermann), und lacht ebenso dreckig, als er seine Stasi-Akten in den Umzugskarton stellt. Es ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm über den Stasi-Spitzel Anderson, der am Prenzlauer Berg im Berlin der achtziger Jahre im Auftrag des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Gott zu spielen suchte. In dem Dokumentarfilm geistert er herum, ohne sich seiner Vergangenheit zu stellen, es sei denn, er darf weiter denunzieren: Der Liedersänger, Publizist und frühere DDR-Oppositionelle Ekkehard Maaß etwa wird als ein „Haufen Scheiße“ bezeichnet. Überhaupt erscheint Anderson als Gespenst: Generell ersetzt das „man“ das „ich“ seiner Rede, wenn er mit der Sprache rausrücken soll.

Erinnere mich an den Herbst 1991. Gerade in Berlin angekommen, rät mir jemand abends ins Café Kiryl zu schauen, das rückwärts gelesen „Lyrik“ heißt und im Haus des Stasi-Dichters Schedlinksi liegt. Es ist der erste öffentliche Auftritt Andersons seit seiner Enttarnung durch Biermanns Büchnerpreisrede. Ohne den Namen Anderson zu kennen, befinde ich mich unversehens in einem zum Bersten gefüllten Raum. Ein österreichisches Fernsehteam postiert sich direkt am Fenster: Der Reporter steht auf einem Stuhl, der wiederum auf einem Tisch steht, so daß der Kopf an die Decke stößt. Im hämisch-schmähenden Tonfall attackiert er den kaltschnäuzigen Spitzel und wirkt dabei genauso unangenehm wie letzterer, der sich schließlich, wie ein Kleinkind, von der Schriftstellerin Elke Erb an seiner Seite in Schutz nehmen läßt, noch immer seine Unschuld beteuernd.

In der vollbesetzten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo die Premiere des Anderson-Films stattfindet, erfolgt nach der Vorführung eine Familienaufstellung: Jakob Augstein, Herausgeber der linken Wochenzeitung Freitag, Spiegel-Kolumnist und Sohn des Schriftstellers Martin Walser, interviewt seinen Schwager Sascha A., der mit Alissa Walser liiert ist und als „Satzschabe“ die Druckfahnen seines Schwiegervaters korrigiert. Auf die Frage Augsteins, ob er ein politischer Mensch sei, entgegnet Sascha A.: „Ich interessiere mich nur für Lyrik“, und schließlich: „Irgendwann muß man sich von sich selbst abwenden.“ Das Publikum hat genug, eine Mischung aus Stöhnen und tiefem Durchatmen erfüllt den Saal. Darauf das „Arschloch“: „Ist ja keine Gedichtzeile, muß man sich nicht merken; natürlich erinnert man sich.“ Ich denke: Jedes Arschloch hat einen Jakob Augstein.

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