© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Die Einheit von Leben und Kunst herstellen
Dem Zufall keine Note: Teodor Currentzis dirigiert Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ als musikalische Kommune
Jens Knorr

Das hört sich nach einer Novelle aus der musikliterarischen Gartenlaube an. Die Stadt Perm, ganz im Osten Europas gelegen, Rußlands Tor zum Ural, als sowjetrussische Waffenschmiede bis 1991 „verbotene“ Stadt, hat infolge der Rekapitalisierung des Staates, der „Jelzinschtschina“, mit massiven strukturellen Problemen zu kämpfen, eines davon die Abwanderung von Arbeitskräften in die Zentren. Perm ist auch der Ort, an dem der Impresario Sergej Djagilew Kindheit und Jugend verbracht hat.

Oleg Tschirkunow, Gouverneur und, ganz nebenbei, einer von den Oligarchen dieser Region, will mit kulturellen Initiativen die Intelligenzija in der Stadt halten. Er verfällt auf einen jungen Griechen aus der Nachbarschaft, nur schlappe 1.650 Kilometer von Perm entfernt. Der hat nach seinem Dirigierstudium, erst in Athen, dann am St. Petersburger Konservatorium bei Ilja Mussin, dem großen Lehrer und Theoretiker des Dirigierens, im Jahre 2004 eine Stelle als Musikdirektor des staatlichen Opern- und Ballett-Theaters in Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens, angetreten und das Haus zu rußlandweiter Bedeutung gebracht. Sein Name ist Teodor Currentzis.

Der junge Grieche handelt dem Gouverneur traumhafte Bedingungen ab, die Finanzierung durch einen russischen Mineralölkonzern macht’s möglich: Erhöhung des Opernetats für drei Jahre, Gewährung weitestgehender künstlerischer Autonomie, Wechsel seines in Nowosibirsk gegründeten Ensembles für historische Aufführungspraxis MusicAeterna an das Opernhaus Perm und Neugründung eines Chors unter demselben Namen. Man solle sich, sagt der Gouverneur, an das Wirken von Cur-rentzis in Perm so erinnern, wie man sich an das Wirken Djagilews erinnert.

Currentzis geht es um nicht mehr und nicht weniger als darum, die Einheit von Leben und Kunst herzustellen, wo doch eins von beiden immer draufzahlen muß, und die Kunst von ihrer Warenform zu erlösen, sie als Lebensform ins Recht zu setzen. Nicht Leben mit, sondern Leben in der Musik, Musik nicht als Passion, sondern als Mission! Im Gegensatz zu dem eingesessenen Opernorchester haben die Musiker der MusicAeterna nur befristete Engagements, dafür aber unbegrenzte Vorbereitungs- und Probenzeit für ihre Programme, Proben bis zur Erschöpfung und darüber hinaus, eben bis zu einem wirklichen Ergebnis, wenn es darauf ankommt, 24 Stunden am Tag.

Im russischen Opernleben hat Mozart nie recht zum Säulenheiligen verklärt werden können. Zu fremd schienen russischem Musikverständnis die geschichtlichen Erfahrungen, die Mozarts Musik vermittelt, zu westlich die einmalige historische Konstellation, die diesen einmaligen Mozart (Sohn) hat möglich werden lassen.

Doch nunmehr scheint an der europäischen Peripherie ein Resonanzraum für das dialektische Spiel des Nicht-mehr und Noch-nicht geöffnet, das der Aufklärer und Aufklärungskritiker Mozart in seinen drei Da-Ponte-Opern auf die Spitze treibt, ein Resonanzraum, der in Westeuropa lange schon stumpf geworden ist. Anders läßt sich nicht erklären, wieso ausgerechnet im fernen Perm und ausgerechnet Currentzis und die Seinen Mozarts Spiel so zu spielen verstehen, daß durch das Ohr im Kopf des Hörers ein ihm völlig unbekanntes und ungehörtes zeitgenössisches Werk, weit über zweihundert Jahre alt, entsteht: „Le nozze di Figaro“, zu deutsch: „Figaros Hochzeit“.

Spielmacher ist wie immer der Eros

Das Spiel an dem einen tollen Tag im und um das Grafenschloß regeln zwar feudale Hierarchien, doch Spielmacher ist wie immer und überall der Eros, der mit Gewalt alle Schranken nach oben und unten durchbricht und als längst obsolete kenntlich macht. Es wäre auch zu einfach und übersichtlich, wenn Figaro und Susanne lediglich um eine Heiratserlaubnis intrigierten, die der Conte nur deshalb nicht erteilte, weil er vorher von dem Recht der ersten Nacht, von der Zofe seiner Gattin also, Gebrauch machen wollte. Nun wissen wir spätestens seit den Forschungen des französischen Mediävisten Alain Boureau, daß es sich bei dem „Ius primae noctis“ um eine juristisch-literarische Fiktion handelt, aber auch, daß sein Fortleben als mythischer Brauch auf Nichtabgegoltenes in der Moderne verweist.

Wo Da Ponte die Texte von Beaumarchais entschärft hat, verschärft sie Mozarts Musik und verhandelt die erotischen und sexuellen Verstrickungen aller mit allen. Als hätte er seinen Boureau gelesen, macht Mozart weniger das Recht der ersten Nacht zum Nabel der Handlung als vielmehr die permanenten Versuche aller Figuren, ihre Liebesglut in bürgerliche Rechtsformen zu gießen. Sie denken Liebe in Besitzverhältnissen und leiden an diesem Denken, das sie gefangenhält. Das macht ihre Nähe und Ferne zu- und voneinander, zu und von uns aus.

Die Sänger sind zu einem vibratoarmen Singen angehalten, wodurch ihr je individueller Stimmausdruck wohl zurückgenommen, aber zugleich die Freiheit eröffnet wird, die Individualität der Figuren stimmlich auszugestalten. Die Mittel schöpfen sie, ebenso die Instrumentalisten, aus den unerschöpflichen Quellen, die Musikforschung und historische Aufführungspraxis wieder zum Sprudeln gebracht haben; Auswahl und Anwendung verantworten sie selbst.

So rücken die Figuren zueinander, klingen dem Ohr – und nicht erst im dichten Garten des Schlußakts – bisweilen zum Verwechseln ähnlich. Und so rücken die Sänger zueinander, die Interpretation über die Auslegung ihres Notentextes hinaus als ungeschminkte Selbstbegegnung verstehen. Ihren Entäußerungen eignet eine Dringlichkeit, die weit über die unmittelbaren Handlungsanlässe hinausweist. Simone Kermes, die Contessa der Einspielung, hat im Rundfunk darüber berichtet.

Es ist nicht zu hoch gegriffen, dieses Mozart-Ensemble als ein führendes einzustufen: Andrai Bondarenko (Conte Almaviva), Fanie Antonellou (Susanna), Christan van Horn (Figaro), Mary-Ellen Nesi (Cherubino), Maria Forsström (Marcellina), Nikolai Loskutin (Bartolo), Krystian Adam (Basilio), James Elliott (Don Curzio), Garry Agadzhanian (Antonio) und Natalya Kirillova (Barbarina).

Freiheit im Auszieren heißt Freiheit im Kommentieren, von der das Continuo reichlich und frech Gebrauch macht. Maxim Emelyanychev am Hammerklavier verschweißt Rezitative und Gesangsnummern miteinander, beschleunigt und verlangsamt, bringt das Geschehen zum Stehen und Laufen und hält dabei immer auf jenes utopische Moment des Stückes zu, von dem aus Currentzis sein Klangbühnen-Regietheater konzipiert haben muß. Es ist jener Augenblick, da der Conte die Contessa um Verzeihung bittet und die Contessa seine Bitte erhört, die Erniedrigung des Conte in die Errettung des Menschen verwandelt, da alles Vertragswerk nichtig und Barbarinas Laterne – „ah“ – noch in die entlegensten Winkel aller Herzen leuchtet.

Verheißung und Erfüllung, Alleinsein ohne Einsamkeit

Das vorgeschriebene Andante verlangsamt Currentzis zu einem Largo, das Piano nimmt er in ein Pianissimo zurück, und schon erzählt das G-Dur- Ensemble von Verheißung und Erfüllung zugleich, von Nähe ohne Besitzergreifen, von Alleinsein ohne Einsamkeit. So habe ich das noch nie gehört!

Ob der darauf einsetzende Sturm, der im Allegro assai vom Paradiese her weht, alle Figuren dieser Buffa beiseite fegen oder mit sich ziehen wird – das bleibt der Entscheidung des Hörers überlassen.

Mit Mozart, dem Chronisten gesellschaftlicher Auflösung und Neuordnung, bohren sich Currentzis und die Seinen bis auf den Grund ihres und des Befindens ihres Hörers vor. Man muß im diskographischen Erbe weit zurückgraben, um vergleichbar Avantgardistisches zu hören; fündig wird man bei Fritz Busch, Fritz Reiner und Erich Kleiber. Weil ihre Interpretationen Auskunft geben über ihre Zeit, sind sie haltbar geworden gegen die Zeit. Diese hier gehört unbedingt dazu!

Und die Fortsetzung unserer Novelle? Demnächst soll „Così fan tutte“ erscheinen, im nächsten Jahr „Don Giovanni“ den Zyklus der Da-Ponte-Opern abschließen. Inzwischen ist ein neuer Gouverneur am Ruder, die Finanzierung des Projekts vorerst gesichert, seine Zukunft ungewiß. Was zählt, ist das Beispiel, das in diesem besten Fall ein Vorspiel ist. Man wird sich an das Wirken von Teodor Currentzis in Perm erinnern!

W.A. Mozart: Le nozze di Figaro Sony Classical 2014 www.teodor-currentzis.com

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