© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Schiffbrüchige auf der Arche
Mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet: Lutz Seilers Roman „Kruso“ spielt 1989 auf Hiddensee
Thorsten Hinz

Lutz Seilers Roman „Kruso“ war noch nicht erschienen, da wurde er schon preisgekrönt. Ende Juli zeichnete die Mecklenburgische Literaturgesellschaft ihn mit dem Uwe-Johnson-Preis aus. Seit Ende August vergeht nun kein Tag, an dem „Kruso“ nicht zum Meisterwerk, wenigstens aber zum Buch des Jahres ausgerufen wird. Soeben ist der Roman mit dem Deutschen Buchpreis 2014 ausgezeichnet worden. Sogar mit dem „Zauberberg“ ist er schon verglichen worden. Damit droht er unter dem Geröll des „Sekundären“ (George Steiner), das der Literaturbetrieb produziert, zu verschwinden.

Man kann kaum glauben, daß dem 51jährigen Autor das öffentliche Theater angenehm ist. Bisher ist Seiler vor allem als Lyriker hervorgetreten. Nebenher betreut er das Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam, wo der große Dichter und Chefredakteur von Sinn und Form von 1954 bis 1971 gelebt hatte, die letzten Jahren als innerer Exilant. Das ist erwähnenswert, weil vom Huchelschen Geist einiges in den Roman eingegangen ist.

Sommer 1989. Der 24jährige Germanistikstudent Edgar Bendler aus Halle an der Saale, genannt Ed, beschließt, den offiziellen Studentensommer zu ignorieren und die Ferien auf der Ostseeinsel Hiddensee zu verbringen: eine milde Form weniger der Rebellion als des Ausstiegs. Die langgestreckte, in ihren Umrissen einem Seepferdchen gleichende Insel westlich vor Rügen besaß den Ruf der Exklusivität. Die Umweltauflagen waren streng, die Quartiere knapp. Um hier ein Ferienhaus zu besitzen, mußte man zur absoluten Prominenz gehören.

Die Exklusivität verstärkte das Inselgefühl. Im physischen wie im abstrakten Sinne bildete Hiddensee den äußersten Punkt der DDR. „Wer hier war“, heißt es im Roman, „hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.“ Doch nicht allen genügte das. Einige wagten die Flucht über die Ostsee nach Dänemark. Nur wenige kamen dort an.

Ed schlüpft als Abwäscher im Betriebsferienheim „Der Klausner“ unter, das an der Nordspitze der Insel liegt. Den „Klausner“ gab und gibt es wirklich. Seiler knüpft zudem an den 1989 erschienenen Roman „Der Tangospieler“ von Christoph Hein an. Der Titelheld ist ein ehemaliger politischer Häftling und Universitätsdozent, der im Sommer 1968 im „Klausner“ als Kellner anheuert und Vergessen sucht, während der Warschauer Pakt in Prag einmarschiert und so die letzten Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz beendet. Hein erzählte die Geschichte im Modus von Camus’ „Der Fremde“. Die Datierung der Handlung ließ die Leser des Jahres 1989 die eigene Gegenwart um so geisterhafter erscheinen.

Eben diese geisterhafte Stimmung nimmt Seiler auf und verwandelt sie in eine magische, surreale Sprach- und Bilderwelt, in der die DDR kaum mehr ist als ein Zitat. Eds Ausstieg liegt kein politischer Konflikt, sondern eine private Katastrophe zugrunde. Seine Freundin ist von einer Straßenbahn überrollt und tödlich verletzt worden. Das erinnert freilich an Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“. Jakob war immer schräg über die Gleise gegangen und dabei unter die Räder geraten.

Die zwölf Angestellten und Saisonarbeiter, die sich im „Klausner“ zur täglichen Tafelrunde versammeln, sind promovierte Akademiker, Philosophen, Soziologen, mit dem Staat in Konflikt Geratene, „Schiffbrüchige“, die hier eine Arche Noah gefunden haben. Sie nennen sich Rimbaud und Cavallo, der Eisverkäufer sieht wie Rilke aus. Die deutsche und europäische Lyrik vom Barock bis Trakl gehört zu ihrem selbstverständlichen Besitz.

Das heimliche Oberhaupt ist ein junger Mann namens Kruso – eigentlich Alexander Krusowitsch –, ein Halbrusse, Sohn eines sowjetischen Generals und einer Zirkusartistin, der indianische Gesichtszüge trägt. Er wird auch „Aloscha“ oder, von ganz Vertrauten, „Losch“ genannt, so von Ed, den er – der Hiddenseer Robinson – als seinen Freitag erkennt. Kruso hat ebenfalls einen Schicksalsschlag erlitten. Vor Jahren ist seine Schwester Sonja plötzlich vom Strand verschwunden. Hat sie einen Fluchtversuch unternommen und ist ertrunken oder von einer Grenzpatrouille erschossen worden?

Kruso übt eine charismatische Herrschaft aus. Er spinnt ein geheimes Netz und hält in Höhlen, Schuppen, Hochständen und Dachkammern Quartiere für weitere Schiffbrüchige bereit. Niemand soll mehr fliehen und ertrinken müssen. Sie sollen als „Erleuchtete“ von der Insel gehen, damit eines Tages die „Quantität in Qualität umschlägt“ und „das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt“. Er hat eine autonome, surreale Welt gebaut, in der Gedichte rezitiert, Strandfeste gefeiert, meditiert, psychedelische Kräutermixturen und Alkohol konsumiert werden und selbst der quälende Abwasch zum Reinigungsritual gerät.

Die große Politik spielt nur als Hintergrundrauschen eine Rolle, zunächst jedenfalls. Das alte, unausschaltbare Küchenradio überträgt Tag und Nacht den Deutschlandfunk, der von immer gewaltigeren Fluchtwellen berichtet, die schließlich auch die „Klausner“-Arche ins Wanken bringen ...

Kruso (bzw. Aloscha) ist aufgewachsen bei seinem Onkel, dem Physikprofessor Rommstedt, der auf der Insel ein Strahleninstitut betreibt. Er hat ein reales Vorbild in Arthur Alexander („Aljoscha“) Rompe, einem führenden Kopf der DDR-Punkbewegung, der die Band Feeling B gründete, aus der später die Teutonen-Rockband Rammstein hervorging. Er war der Stiefsohn Robert Rompes, eines in Sankt Petersburg geborenen, bedeutenden Physikers, der auf Hiddensee ein Ferienhaus besaß. Aljoscha Rompes Leben endete 2000 in Berlin. Sein letztes Quartier war ein Wohnwagen. Das besetzte Haus hatte er wegen der anstehenden Luxussanierung verlassen müssen.

Darüber hinaus bietet der Roman reichlich Stoff für philologische Schnitzeljäger. Edgar, der Erzähler, spielt auf den jugendlichen Rebellen Edgar Wibeau aus Ulrich Plenzdorfs Bestseller „Die neuen Leiden des jungen W.“ an. Andere Spuren erkennt man erst auf den zweiten Blick.

Als das Hiddenseer Refugium sich leert und erkennbar ist, daß es von der westlichen Lebensform vereinnahmt wird, erklärt Kruso seinem letzten Getreuen, nun gehe es darum, „die Wurzel zu beschützen vor den Schlacken, die jetzt kommen“. Zwei Gedichte werden hier assoziativ miteinander verbunden: „Der Garten des Theophrast“, mit dem Peter Huchel 1962 gegen die Gleichschaltung der Zeitschrift Sinn und Form protestierte: „Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden, Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“, und „Was soll uns das, mein Herz“, in dem Rimbaud nach der Niederlage der Pariser Kommune eine Schreckensvision über die Zukunft Europas entwarf. Der entsprechende Vers lautet in der recht freien Übersetzung von Klaus Möckel: „Die alte Erde fällt um mich in Schlacke.“

Abgedruckt ist die Gedichtfassung in einem Rimbaud-Band, der 1989 im Insel Verlag Leipzig erschien und Volker Brauns Aufsatz „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“ enthält. Braun reflektiert darin metaphorisch eine historische Situation, in der der Sozialismus am Ende ist, der Westen aber keine Alternative darstellt. Mehrdeutig heißt es: „(...) wir müssen ins Innere gehen“. Seiler wird den Essay gründlich gelesen haben.

Solche komplexen Systeme personeller und intertextueller Verweise sind für einen Roman riskant. Doch der Gefahr, sich in der Schlüsselloch- oder Philologenperspektive zu erschöpfen, entgeht „Kruso“ bravourös. Die Erzählung verfügt über soviel suggestive Kraft, daß sie die assoziierten Bedeutungsebenen problemlos integriert.

Den Höhepunkt erreicht das Buch auf den anderthalb Seiten des Epilogs, auf denen Seiler die kosmische Einsamkeit der Ertrinkenden schildert, die ihren Fluchtversuch oft ohne Wissen der Angehörigen unternahmen und als unbekannte Tote in Dänemark angeschwemmt wurden. Die schäbige Wirklichkeit der DDR erreicht in der Erzählung eine tragische Höhe.

Lutz Seilers „Kruso“ ist ein Roman, den es sich lohnt zweimal zu lesen, um das, was einem bei der ersten Lektüre noch verborgen bleibt, zu erkennen und zu verstehen.

Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, gebunden, 484 Seiten, 22,95 Euro

Foto: Hiddensee: Zu DDR-Zeiten bedeutete Urlaub auf der exklusiven Ostseeinsel eine milde Form weniger der Rebellion als des Ausstiegs

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