© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Volk im Raum
Dokumentarfilm: „Der große Demokrator“ von Rami Hamze spielt im Kölner Stadtteil Kalk
Sebastian Hennig

Rami Hamze hat einen seltsamen Humor. Schon der Titel seines ersten Langfilms „Der große Demokrator“ schlägt glatt in die Kerbe von Jacob Talmons Trilogie „Die Geschichte der totalitären Demokratie“. Doch der Regisseur entwirft kein umfassendes Historienbild. Es ist eher eine Anekdotensammlung, eine Art Raabesche Chronik der Sperlingsgasse in Zeiten der Massendemokratie. Demokratie inszeniert immer der Regisseur, der das Geld dafür mitbringt. Rami Hamze hat zehntausend Euro zu bieten, um die Einwohner des überrheinischen Kölner Stadtteils Kalk dazu anzureizen, sich vorübergehend in eine kleine Parteiendemokratie aufzufächern. Sie entscheiden sich am Schluß mehrheitlich für eine Quatschbude, ein Stadtteilcafé.

Infolge des industriellen Aufschwungs im Kaiserreich wurde Kalk zu einer wohlhabenden Industriestadt. 1910 kam es zu Köln und gilt inzwischen als ein „Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Es gibt hier zuviel motorisierten Verkehr und zuwenig Grünflächen. Die Kriminalitätsrate ist so hoch wie der Kalkberg klein ist. Es leben hier überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund.

Regisseur Rami Hamze dagegen, dessen familiäre Wurzeln auch nach Palästina führen, wohnt auf der anderen Seite des Rheins in Köln-Nippes. Das ist ein gesundes Gründerzeitviertel mit großzügigen Parkanlagen und einem traditionsreichen Gymnasium. Aus seiner sorglosen Lage treibt ihn angeblich der Wunsch, etwas zu bewirken, und er wählt sich Kalk, um „das zarte Pflänzchen seines Engagements zu kultivieren“. An solchen Formulierungen wird deutlich, wie er sich selbst mißtraut.

Wie ein Ausländer fällt er im Ausländerbezirk ein und braust mit seinem Werbemobil zwischen tristen Hausfassaden hindurch. Er hat 10.000 Euro Spendergelder gesammelt, die er dem Stadtteil zur Verfügung stellen will; wofür, das sollen die Bürger gemeinsam selbst entscheiden. Ein leerstehendes Fahrradgeschäft wird zum Projektraum der Aktion „Kalk für alle“ umgewidmet. Eine Praktikantenschar steht ihm zur Seite. Die Vorgeschichte bleibt im toten Winkel des Films. Nicht zu sehen ist, wie sich die ersten Erkundungen der Gesellschaft ereigneten, deren Protagonisten bald im Projektraum diskutieren. Sehr unwahrscheinlich, daß sich alle nur aus Neugierde eingefunden haben. Da mußten von Produzent und Regisseur gewiß eine ganze Menge Vorbereitungen getroffen werden, die hinausgehen über Zettel verteilen und Leute auf der Straße ansprechen.

Unsichtbare Mauern zwischen den Ghettos

Die Vertreter der engagierten Mittelschicht, die sich schließlich zusammenfinden, hat Hamze nicht mitgebracht, aber mit seiner Art der Anrede hat er sie aus Kalk hervorgezogen. Die verschiedenen Gruppen und Einzelgänger versuchen nun, mit ihren Vorhaben für einen Anteil an der Spende zu werben. Eine bereits bestehende Bürgerinitiative will den Kalkberg mit einem Karussell krönen. Es handelt sich um eine vom Verkehr umtoste Hochdeponie der einstigen Chemischen Fabrik Kalk. Die Stadt will hier einen Landeplatz für Rettungshubschrauber errichten.

Bei einer Lokalbegehung werden die kulturellen Verwerfungen deutlich. Der Demokrator kann nicht verstehen, wie die begeisterte Minderheit die Erhebung über das Gewöhnliche feiert, einen Ort zum Zurückblicken, für den Abstand braucht. Er fragt die Sprecherin: „Also rettet ihr den Kalkberg für euch?“ Sie antwortet: „Natürlich rette ich ihn für mich, aber ich rette ihn auch für dich.“ Hier wird letztlich weit anmutiger und umfassender gescheitert als in den Siegerprojekten der demokratischen Tombola. Der Hügel wird bald nach Fertigstellung des Films von den Baggern umgewühlt werden.

Da er als Filmautor das Heft in der Hand hält, ist es für Rami Hamze kein Kunststück, sich selbst mit einer gewissen Reserve innerhalb der Filmszenen zu stilisieren. Daß er im gleichen Maße die Menschen nicht entblößt, die sich von der Verheißung des Geldes zur Offenbarung ihres Wesens verführen lassen, ist ihm zugute zu halten. Der Film legt die Verhältnisse frei, ohne sie auf indiskrete Weise vorzuführen. Wer zuschaut muß sich hineinbegeben in diese Kreise. Es ist die Sphäre der Gentrifizierungspioniere, die sich als Kritiker dessen betrachten, was sie bewirken und sich zuletzt auch dieser Paradoxie noch bewußt sind.

Einen Versuch macht er, die unsichtbaren Mauern zwischen den Ghettos zu durchdringen. Als er im arabischen Café mit den jungen Männern um die Wasserpfeife sitzt, erweisen diese sich skeptisch gegenüber seinen Parolen. Statt toller Projekte für alle Kalker wünschen sie sich mehr Deutsche als Einwohner dieses Stadtteils.

Rückzug in die Nischengesellschaft

Das Ergebnis einer Kampfabstimmung bewirkt dann genau das Gegenteil. Es läßt zwei Deutungen zu. Instinktiv strebt die Mehrheit danach, im Gemeinschaftsraum den Zustand des suchenden Vorgangs auf unbestimmte Zeit verlängern. Zugleich ist dieser Idealismus Ausdruck der Ratlosigkeit. Nach der Devise „Abwarten und Tee trinken“ bleibt man im „Nachbarschaftswohnzimmer“ hocken. Ein Park, ein Garten, ein Brunnen oder ein Monument bieten auch „Raum für Ideen“, aber vielleicht hätte eine solche Stiftung im öffentlichen Raum keine Chance, unbeschädigt zu bestehen. Da hat wohl der Passant vom Anfang des Films recht, der im eiligen Vorübergehen auf die Parole „Kalk für alle“ mit der Bemerkung antwortet: „Lassen wir nicht zu. Wir sind die richtigen Kalker.“ Dann bleibt also wirklich nur der Rückzug in die Nischengesellschaft. Die Umwandlung des Ladens in den Raum „ganz schön kalk“ ist eine Art Kannibalismus für Gourmets. Dort kaut sich die personifizierte Langeweile die eigenen Fingernägeln ab. Alles, was sich nicht erfüllt, kann von Innen als Andeutungen auf die große Glasscheibe des Ladenlokals projiziert werden, dahinter bleibt es finster wie immer. Der Raum der Demokratie als offenes Wartezimmer.

www.dergrossedemokrator.de

Foto: Filmregisseur Rami Hamze vor dem Stadtteilcafé in Köln-Kalk: Wunsch nach mehr Deutschen

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