© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Das geistige Leben verkümmert
Sonderwege: Die Funktionseliten halten an der geschichtlichen Universalschuld Deutschlands fest
Thorsten Hinz

Martin Walser ist auch im hohen Alter ein Magier des Wortes. Das hat er bei der Vorstellung seines neuen Buches „Shmekendike blumen – Ein Denkmal für Sholem Yankev Abramovitsh“ vor zwei Wochen in Überlingen gezeigt. Seine Sprachkunst ist das Ergebnis harter Arbeit, doch in ihren Ursprüngen handelt es sich um eine Gottesgabe.

Wirkungsmächtig ist nach wie vor auch die alte, die Bonner Bundesrepublik, die 1990 im wiedervereinigten Deutschland aufgegangen ist. Eines der Übel, das sie ihm als Fluch des Pharao mit auf den Weg gegeben hat, ist der Schuldkult beziehungsweise der Schuldstolz, nämlich die Neigung der Funktionseliten, eine geschichtliche Universalschuld Deutschlands zu zelebrieren. Zweiter Weltkrieg und Holocaust werden als Konsequenzen eines „Sonderwegs“ hingestellt, der schon für den Ersten Weltkrieg ursächlich gewesen sein soll und auf der Zeitachse beliebig nach hinten verlängert werden kann. Die deutsche Geschichte wird mystifiziert und in eine metaphysisch-diabolische Dimension gerückt.

Die Gründe dafür sind irdisch: Schuldgefühle etwa, die sich durch eine gezielte „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenck-Notzing) zur Kollektivneurose auswuchsen, oder das Bedürfnis, politische Härten dadurch erträglich zu machen, daß man sie als moralisch wünschbar beschrieb. So wurde die deutsche Teilung zur gerechten Strafe für geschichtliche Verfehlungen erklärt. Als die Geschichte darüber hinwegging, baute der Schuldstolz sich im Herzen der Hauptstadt ein Holocaust-Mahnmal als Zeichen seiner unverbrüchlichen Herrschaft im Geiste.

Walser will anscheinend die Fronten begradigen

Inzwischen zeigen die Gegenbewegungen erste Wirkung: Die Sonderweg-These kann als erledigt gelten. Zahlreiche Publikationen – Christopher Clarks „Schlafwandler“ ist nur die populärste – haben die deutsche Allein- und Hauptschuld am Ersten Weltkrieg in den Orkus befördert. Das macht Hoffnung, ruft aber auch reaktionäre Widerstände hervor. Der prominenteste geht vom aktuellen Bundespräsidenten (bzw. seiner Kamarilla) aus, der sich als Handelsreisender in Schuldfragen betätigt.

Jetzt bedient der Schuldkult sich der Wortmacht Martin Walsers. Das überrascht, weil Walser ihn in der Vergangenheit abgelehnt und vor 1989 erklärt hatte, sich mit der Teilung nicht abfinden zu können. In seiner Paulskirchen-rede 1998 hatte er sich gegen die mit dem Holocaust-Mahnmal verbundene „Dauerpräsentation“ und „die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ gewandt und war fortgefahren: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule.“

Als 2002 sein Roman „Tod eines Kritikers“ erschien, der Marcel Reich-Ranicki, dessen Kanonisierung als geistig-moralische Überinstanz im vollen Gange war, als Potentaten des Literaturbetriebs zeichnete, zieh FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ihn gar des Antisemitismus.

Mit seinem neuen Buch will Walser anscheinend die Fronten begradigen. Erst die Kenntnis des Schriftstellers Sholem Yankev Abramovitsh, der von 1835 bis 1917 lebte, habe ihn – um seine Überlinger Rede zusammenzufassen – das Judentum und die Frevelhaftigkeit des Judenmordens begreifbar gemacht. In ihm dominiere nun „die Mitteilung, daß wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. (...) Wir, die Deutschen, bleiben die Schuldner der Juden. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her der Meinungen.“

Der Hinweis auf die klassische Aussage Ernst Noltes, der Holocaust sei ein exzeptionelles, aber kein absolutes, der Geschichte enthobenes Ereignis gewesen, denn seine Voraussetzungen seien leicht zu identifizieren, soll hier als Kommentar genügen. Walser steht im Bann einer Gefühlsaufwallung, die auch die Jüdische Allgemeine andeutete: Seine neue Haltung sei „nicht analytisch, sondern affektiv“. Hinzu kommen die Erschütterung über den plötzlichen Tod Frank Schirrmachers und die Einsicht, daß manche Formulierung über Reich-Ranicki pietätlos war.

Was für Walser die Fortsetzung seiner Gewissenserforschung ist, wird im öffentlichen Raum auf den möglichen Nutzwert abgeklopft. Die FAZ teilt in einem ausführlichen Bericht mit, Walser habe eine Kehre nicht nur in „seinem Verhältnis zum Judentum“, sondern auch zu Reich-Ranicki und Schirrmacher vollzogen. Bei der Gelegenheit erhebt sie ihn zur „moralischen Instanz“, was wiederum den Wert seiner Kronzeugenschaft für den behaupteten Gigantismus der verstorbenen FAZ-Alphatiere erhöht. Die Welt druckte Walsers Rede zwei Tage später komplett ab und vermerkte die vermeintliche „Klarstellung kollektiver deutscher Schuld“. Diese Spiele erinnern an die DDR-Endzeit, als führende Intellektuelle sich am Brecht-Grab versammelten, um die Gewißheiten, die die Gegenwart und Zukunft nicht mehr hergaben, von den Toten zu empfangen.

Das Thema wird virulent bleiben, doch inzwischen kann man von der unmittelbaren Auseinandersetzung zur Schadensbesichtigung übergehen. Der Schuldstolz und die Sonderweg-These haben das geistige Leben verkümmert und zur Moralisierung und Ideologisierung der Wissenschaften geführt. Mit ihnen werden nun auch geistige Biographien abgeräumt, was mit persönlicher Tragik verbunden ist. Der Historiker Heinrich August Winkler, der während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders als repräsentativer Historiker des Landes gefeiert wurde, befindet sich in einem verzweifelten Abwehrkampf gegen das Clark-Buch. Die einzigen Argumente, die ihm zur Selbstbehauptung noch zur Verfügung stehen, sind volkspädagogischer Natur.

Schuldstolz beschädigt politische Urteilsfähigkeit

Um Winklers Sturzhöhe zu ermessen, muß man bis zum Historikerstreit zurückgehen. Damals konnte er es sich leisten, Einwände gegen den „Sonderweg“ als nicht satisfaktionsfähig vom Tisch zu wischen und hinzuzufügen: „Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen (...) einen souveränen Nationalstaat nicht mehr wollen“, das sei die „Logik der Geschichte“.

Hier zeigt sich, daß der Schuldstolz auch die politische Urteilsfähigkeit beschädigt hat. Darauf haben im Januar die Publizistin Cora Stephan sowie die Historiker Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Thomas Weber in einem manifestartigen Aufruf hingewiesen. Die Selbstbezogenheit und – so wörtlich – der „Schuldstolz“ Deutschlands trügen die Gefahr in sich, daß die Politik von „falschen Prämissen“ ausgehe.

Drittens ist auf die dehumanisierende Wirkung und die Persönlichkeitsregression zu verweisen, die der Schuldkult auslöst. Die psychologische Wissenschaft ist sich einig darin, daß die Mangel- und Verlusterfahrungen, die Ängste und Verhärtungen, die die Kriegsgeneration erlebte, an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden und das generative Verhängnis nur durch ein Gespräch über die ihm zugrundeliegenden Leiden durchbrochen werden kann. Doch dieses Gespräch wird durch das Dogma blockiert, es zöge „Relativierung“ eigener Schuld nach sich.

Die Folgen der Blockade sind verheerend. Im Februar 2014 präsentierte die Piratenpolitikerin Anne Helm in Dresden auf blanker Brust ihr Dankeschön an „Bomber-Harris“, und ihre Parteikollegin Julia Schramm reimte dazu: „Sauerkraut Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei!“ Das liegt auf dem Niveau von Hakenkreuz-Schmierereien, wie sie Halbwüchsige manchmal vornehmen. Die beiden Frauen aber gehen auf die Dreißig zu! Es rundet das Bild ab, daß Schramm unter der Ägide Frank Schirrmachers als FAZ-Autorin willkommen und ein Gegenstand ernstgemeinter politischer Betrachtungen war.

Hier ist ein Schlußpunkt fällig! Vielleicht wird er in einer ironischen Volte durch Martin Walsers neues Buch gesetzt?

Martin Walser: Shmekendike blumen. Rowohlt, Reinbek 2014, gebunden, 144 Seiten, 14,95 Euro

Foto: Martin Walser: „Die Deutschen bleiben Schuldner der Juden“

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