© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Eine Nation in innerer Auflösung
Die Ausschreitungen im amerikanischen Ferguson als Folge des „ruinösen Liberalismus“: US-Klassentrennung vertieft Rassentrennung
Dirk Glaser

Als am 9. August 2014 die Polizei den schwarzen Jugendlichen Michael Brown erschoß, kam es in der US-Kleinstadt Ferguson (Missouri) zu Protesten, Unruhen, Plünderungen, zum Einsatz der Nationalgarde und zur Verhängung des Ausnahmezustandes. Soweit sich bundesdeutsche Medien überhaupt um Ursachenanalyse bemühten, verwiesen sie auf die notorische Diskriminierung von Afroamerikanern durch schußfreudige weiße Polizisten. Bei Spiegel Online (Ausgabe vom 20. August) meinte Marc Pitzke gar, in Ferguson seien die „schwersten Rassenkrise seit Generationen“ ausgebrochen. Als einer der wenigen Kommentatoren hielt Axel Postinett vom Handelsblatt (Ausgabe vom 19. August) dagegen: Die altbekannte Rassismus-Diskussion lenke nur von den „wahren Problemen“ ab, wie sie immerhin von keinem geringeren als Barack Obama zu Jahresbeginn schon auf den Punkt gebracht wurden.

Die neue Trennlinie in der US-Gesellschaft, so Obama, verlaufe nämlich heute nicht zwischen Schwarz und Weiß, sondern zwischen Arm und Reich. Folgerichtig deutet Postinett die Gewaltausbrüche in der Kleinstadt bei St. Louis als Symptom einer Nation in Auflösung, bewirkt von der Politik des „organisierten Geldes“, die die ohnehin schwach ausgeprägten Strukturen des US-Sozialstaates geschleift habe.

Ausgerechnet das Bayern Radio setzte mit Stefan Berkholz noch eins drauf und attackierte mit fast marxistischer Inbrunst den „ruinösen Liberalismus“ und den „Raubtierkapitalismus“, der zum inneren Verfall der USA geführt habe. Zu seiner drastischen Wortwahl war Berkholz durch die Lektüre von George Packers „innerer Geschichte des neuen Amerika“ inspiriert worden, die 2013 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde und seit kurzem unter dem deutschen Titel „Die Abwicklung“ vorliegt.

Europas multikulturellen Städten droht Ähnliches

Packers Sozialreportagen, die Gewinner und Verlierer einer Gesellschaft porträtieren, für die sich der Neoliberalismus als Ferment der Dekomposition erwiesen hat, zeichnen gerade für den Mittleren Westen, wo Hunderte von Städten wie Ferguson Industriebrachen gleichen, ein derart schonungsloses Bild, daß selbst ein eingefleischter „Atlantiker“ wie Gerhard Schröders einstiger Kulturstaatsminister Michael Naumann Packer gar nicht mehr korrigieren wollte. Freimütig fügte Naumann stattdessen hinzu, es sei in den USA alles noch unvorstellbar schlimmer als von dem Journalisten des New Yorker geschildert. Das Loch sei „viel, viel tiefer, als der Autor ahnt“, wenn er die „verheerenden Lebensumstände in den verrottenden Kommunen ehemaliger Industriezentren im Mittelwesten“ beschreibe (Die Zeit vom 31. Juli).

Daß die sozialen mittlerweile die ethnischen Trennlinien überlagern, wie Obama warnte, ist jedoch nur bedingt richtig. Vielmehr verschärft der zerbröselnde soziale Kitt die Rassenfrage, so daß mit der immer brutaleren Klassentrennung der US-Plutokratie sich die Gräben zwischen den Rassen der multiethnischen Einwanderergesellschaft vertiefen. Gestützt auf Forschungen ihrer US-Kollegen kann die Stadtgeographin Ulrike Gerhard (Uni Heidelberg) daher diesen Prozeß anhand der urbanen Topographie aufzeigen und über die neue „Bedeutung von ‘Rasse’ und ‘Klasse’ im US-amerikanischen Ghetto“ referieren (Geographische Rundschau, 5/2014). Betroffen ist derzeit am meisten die schwarze Bevölkerung in den „Stadträumen“ des Ostens und des deindustrialisierten Mittelwestens. Hier stelle sie die „urbane Unterklasse“. In den Ghettos vieler marginalisierter Viertel korreliere afroamerikanische Herkunft mit alarmierenden Armutsdaten. Da der Staat sich aus der Finanzierung der sozialen Infrastruktur zurückziehe, sich nur noch mit Hilfe einer militarisierten Polizei (JF 36/14) bei der Kriminalisierung der Unterschicht engagiere und die „‘tödliche Symbiose’ zwischen Ghetto und Gefängnis“ stifte, gälten diese humanen Minimalstandards der US-Gesellschaft inzwischen als „akzeptiert“. Ein Prozeß, der bald auch Europas multikulturelle Städte erfassen werde – „wenn auch in unterschiedlichen ‘Härtegraden’“.

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