© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Knapp daneben
Furchterregende Gelassenheit
Karl Heinzen

Über Jahrzehnte hinweg sagten sich unsere europäischen Nachbarn: Die Deutschen, diese unerträglichen Besserwisser, werden wir zwar nie sympathisch finden. Aber immerhin können wir uns darauf verlassen, daß sie Angsthasen sind und von ihnen daher keine Gefahr mehr ausgeht.

Tatsächlich gab es wohl nichts, wovor sich die Deutschen nicht fürchteten. Stießen sie irgendwo auf ein privates Lebensrisiko, gaben sie erst Ruhe, wenn sie es mit einer passenden Versicherung abgedeckt hatten oder den Staat in die Verantwortung nehmen konnten. In der Politik setzten sie am liebsten auf diejenigen, die ihnen entweder „keine Experimente“ oder den nuklearen Weltuntergang abzuwenden versprachen.

Die „German Angst“, die die Welt belustigte, scheint aber ein Auslaufmodell zu sein. Seit mehr als zwei Jahrzehnten läßt die R+V Versicherung den Bürgern regelmäßig entlocken, welche Sorgen ihnen schlaflose Nächte bereiten, und stets boten diese Umfragen das gleiche Bild: War die eine Angst verblaßt, drückte die nächste um so stärker aufs Gemüt.

Nur Phantasten können glauben, daß es Schaffensfreude ist, die die Menschen zu Leistung anhält.

Die aktuellen Zahlen jedoch fallen aus dem Rahmen. Die Deutschen sind so gelassen wie nie zuvor. Die Trendwende hat mehrere Ursachen. Da unsere Gesellschaft vergreist, wächst die Zahl der Mitbürger, die sich keine Gedanken über ihre Zukunft mehr machen müssen. Dank der ungebremsten Einwanderung stoßen Menschen zu uns, die risikofreudiger und mental robuster als die angestammte Bevölkerung sind. Jugendliche von heute wissen von vornherein, daß sie von ihrem Leben weniger zu erwarten haben als ihre Eltern oder Großeltern. Da sie sich bescheidenere Ziele setzen, sind auch ihre Sorgen, daß etwas schiefgehen könnte, geringer.

Die um sich greifende Gelassenheit lädt aber nicht dazu ein, gelassen zu bleiben. Sie ist furchterregend. Nur Phantasten können glauben, daß es Schaffensfreude ist, die die Menschen zu Leistung anhält. Es ist aber in Wahrheit die Angst vor dem Versagen, die ihnen im Nacken liegt. Wenn man sie ihnen nimmt, werden sie träge und aufmüpfig – und das Fundament unseres wirtschaftlichen Erfolges gerät ins Wanken.

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