© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Kleider machen Leute runter
Stil? Scham? Fehlanzeige! Über die alltäglichen Anblicke auf deutschen Straßen – inklusive Siberstreifen am Horizont
Andreas Harlass

Erinnern Sie sich? Dieser August war reichlich kühl. Und der September macht erst gar keine Anstalten, noch mal aufzudrehen. Für Sonnenanbeter eine herbe Enttäuschung. Nicht so für Ästheten: Die feiern Tage der Erleichterung und freuen sich auf den Herbst. Nicht, weil sie Badeseen und Softeis hassen, i wo, das ist es nicht; sondern weil ihnen Anblicke erspart blieben, die ab 25 Grad Celsius hierzulande unvermeidlich sind.

Wer blickt schon gern auf behaarte Männerbeine in Tennissocken und offenen Sandalen? Wer auf Flipflops im Berufsverkehr? Auf Bäuche, die unter einem T-Hemd spannen, auf denen irgendein Schrott gedruckt ist? Das gleiche bei den Frauen: Pantalons, oft pinkfarben oder Lila, in denen unförmige Beine stecken, Fettschürzen aus dem viel zu engen Bund quellen, unbekleidete Füße in Plastiklatschen, vorn mit Luftlöchern. Es schaudert den Hund mitsamt der Hütte! Scham? Stil? Fehlanzeige! Dennoch werden so Kirchen, Museen und Restaurationen gleichermaßen heimgesucht.

„Mir doch egal, was andere über mich denken!“

Das Allerschlimmste allerdings ist: Dieser Verfall fällt kaum noch auf! Das Häßliche ist scheinbar Normalität. Ein kurzer Rückblick sei gestattet – und kann medial auch kontrolliert werden: Wer alte Doku-Filme anschaut und bewußt darauf achtet, wird feststellen, daß sogar die Krawall-Studenten um Rudi Dutschke in den Sechzigern noch in Krawatte und Sakko in die Apo-Schlachten zogen. Fußballstadien, wo inzwischen auch Frauen (Männer sowieso) „blankziehen“, waren vor 50 Jahren noch ranggefüllt mit Schlipsträgern, Damen trugen Hüte und Kostüm. Wenigstens Rock. Natürlich bedeckten diese die Knie.

Nun kann man schulterzuckend sagen: „Alles hat seine Zeit …“ Man kann aber auch dagegenhalten: Dekadenz und Kulturlosigkeit sind Vorboten des nahenden Unterganges. Sozialdemokratische Egalität und Ich-Bezogenheit nach dem Motto: Mir doch egal, was andere über mich denken… Einer der ersten Protagonisten dieses Werteverfalls war wohl Joseph (Kampfname: „Joschka“) Fischer, der sich 1985 als hessischer Umweltminister in Turnschuhen vereidigen ließ. Wenigstens trug er noch Sakko.

Kurze Hosen: im Sport, sonst nirgends

Aber es gibt sie noch, die Deutschen mit Stil. Nicht die Banker, Bundes- oder Landtagspolitiker oder Versicherungsmakler. Denen sieht man – bis auf Ausnahmen – an, daß sie sich verkleiden, weil es der Beruf erfordert. Ab und an taucht im Straßenbild ein junger oder älterer Herr mit Chinos, Flanell- oder Kordhose auf, dazu ein Klub- oder Tweed-Sakko. Sogar Hutträger gibt es in Städten wieder öfter zu sehen. Und nach einer Frau im luftigen Sommerkleid statt in Quetschhosen, die sie zur Preßwurst im Kunstdarm verunstalten, dreht sich Mann gerne um.

Ein Klassiker, der in über 18 Sprachen übersetzt wurde, ist das Buch „Der Gentleman“ von Deutschlands bester Stil-Ikone Bernhard Roetzel (JF 44/12). Der Erfolg war so groß, daß er nach den Bestsellern „Die Lady“ und „Der Schuh“ (2013) nun an einem Buch arbeitet, das sich mit handgefertigter Herrenmode beschäftigt. Laut Roetzel soll es noch in diesem Jahr erscheinen. „Der Gentleman“ ist quasi ein Standardwerk für klassische Herrenmode. Unter anderem wird erklärt – und auch gezeigt –, was überhaupt nicht geht. Zum Beispiel kurze Socken zum Anzug. Ein furcht­erregendes Bild, wenn Gewerkschafter und Politiker in TV-Gesprächsrunden Beine übereinanderschlagen und nackte Unterschenkel blitzen lassen. Aber wer zieht heute noch Kniestrümpfe, möglicherweise gar farbige an?

Oder: kurze Hosen. Die haben laut Roetzel ihren festen Platz; und zwar dort, wo Sport getrieben wird. Sonst nirgends! „Die elegantesten Männer sind immer die, die über Jahre das gleiche anziehen“, sagt Roetzel in einem Interview mit der Wirtschaftswoche. Und er erteilt dem Stil-Sterben eine Absage: Bei jungen Leuten sei das heute schon wieder ganz anders. Er selbst wurde in Berlin sogar von Punks nicht etwa angepöbelt, sondern mit „Cool, Humphrey Bogart“ angequatscht.

Über „Modemacher“ wie Harald Glööckler sagt der Kleider-Kenner Roetzel lediglich: „Wenn man wie ein Modeopfer herumläuft, fällt man negativ auf.“ Leider ist Glööckler häufiger im Fernsehen zu sehen. Noch.

www.bernhardroetzelblog.blogspot.de Fernreise-Unternehmens Onebus (CS-Reisen GmbH)

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