© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Mehr Aktivität – aber bitte schön integriert
„Neue deutsche Außenpolitik“: Weltweite Herausforderungen machen ein Denken über Europa hinaus notwendig, doch Berlin tut sich schwer
Michael Wiesberg

Die Häme ist groß. „Stümperei ohne Stragie“, „deutsche Heuchelei in der Weltunordnung“ oder „Weltmeister im Heucheln“ heißen die aktuellen Kommentare, wenn es um die deutsche Außenpolitik geht. Dabei schien sich doch alles zum Besseren gewandelt zu haben. Denn schon seit einiger Zeit macht die Rede von einer „neuen deutschen Außenpolitik“ die Runde. Im Mittelpunkt stehen hier die Reden von Bundespräsident Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar des Jahres, die eine sehr viel aktivere Rolle Deutschlands anpriesen. Selbst die sonst so zurückhaltende FAZ feierte die Rede Gaucks als „Abschied von der altbundesrepublikanischen Selbstverzwergung in der Außen- und Sicherheitspolitik“.

Als Beleg für die „tätige Außenpolitik“, die Steinmeier in Abgrenzung zu seinem Vorgänger Guido Westerwelle, der die Formel von der „Kultur der Zurückhaltung“ ausgegeben hatte, gelten dessen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise, die in der Tat von einem vorher so wenig gekannten Engagement geprägt sind. Das kann angesichts dessen, was in der Ukraine auf dem Spiel steht, auch nicht weiter verwundern. Steinmeier wandelt dabei mit Blick auf das Rußland Putins auf einem schmalen Pfad; deutsche Versuche, mit Moskau und der EU zu einem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zu kommen, wurden insbesondere von den neuen EU-Mitgliedern konterkariert.

Heikler Spagat zwischen Real- und Moralpolitik

Ein Beispiel, das zeigt, daß deutsche Außenpolitik ohne eine Akkordierung mit den EU-Partnern, dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) und letztlich auch mit der westlichen Führungsmacht USA wenig Spielräume hat. Dennoch wird gerade von deren Seite immer betont, Deutschland müsse „mehr Verantwortung übernehmen“. Auf diesen Wunsch ist Gauck in seiner Münchner Rede im übrigen direkt eingegangen, als er erklärte, „weniger Verantwortung geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen“.

Eine Auskunft, die doch einigermaßen verblüfft, wenn man zum Beispiel an das deutsche Engagement in den Krisenregionen dieser Welt denkt: angefangen beim Kosovoeinsatz (seit 1999) bis hin zum Einsatz in Afghanistan. Aber es ist nicht nur auf militärische Einsätze zu verweisen. Auch für die Stabilisierung des Euro leistete Deutschland einen erheblichen Beitrag, bei dem – um es vorsichtig zu formulieren – noch in Frage steht, ob er deutschen Interessen überhaupt dienlich ist. Das gilt im übrigen auch für so manches militärische Engagement, das auf Druck der Nato- und/oder EU-Partner zustande kam.

Versucht Deutschland sich außenpolitisch zu emanzipieren, wie zum Beispiel bei der Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über die Libyen-Intervention im März 2011, folgt in der Regel massive Kritik, verbunden mit der Frage, ob Deutschland die „Westbindung“ lockern wolle, sprich: mehr Unabhängigkeit von den USA anstrebe. Die Deutschen sehen sich dann schnell mit dem Vorwurf der „Untätigkeit“ konfrontiert – obwohl gerade die aktuelle Lage in Libyen zeigt, wie fragwürdig die Intervention in diesem Wüstenstaat war. Gleiches gilt für das Nein von Bundeskanzler Schröder zu einer deutschen Beteiligung am Irak-Krieg von 2003. Auch dieses Nein hat sich im Lichte aktueller Vorgänge als berechtigt erwiesen.

Richtig ist, daß Deutschland international auf „Soft“ und nicht auf „Hard Power“ setzt und bisher nur als Wirtschafts- und Zivilmacht aufgetreten ist, wie es zwei jener 60 Beobachter und Kommentatoren aus aller Welt ausdrückten, die Frank-Walter Steinmeier gebeten hat, im Rahmen des „Review 2014“-Prozesses ihre Gedanken zur deutschen Außenpolitik zu Papier zu bringen. Andere drückten es weniger diplomatisch aus: Deutschland halte sich stark bei Friedens- und Sicherheitseinsätzen zurück oder profitiere vom internationalen Sicherheitssystem, ohne selbst dazu beizutragen. Am pointiertesten brachte es wohl Charles Grant, Direktor des Zentrums für Europäische Reform (CER), auf den Punkt, als er Deutschland vorwarf, ein „Sicherheitstrittbrettfahrer“ und „strategisch schwach“ zu sein. Ein anderer Kritiker geißelte das „mäßige deutsche Interesse an der Fortentwicklung der Nato“. Zur Erläuterung: Unter dem Titel „Review 2014“ hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier deutsche und internationale Experten gebeten, Defizite in der deutschen Außenpolitik zu benennen und Verbesserungsvorschläge zu machen.

Dies führt zu der Frage, was diejenigen, die so häufig davon reden, daß Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse, eigentlich konkret meinen. Würden sie eine Führungsrolle Deutschlands auch dann mittragen, wenn diese eigenen nationalen Interessen entgegenliefe? Es bleibt der Eindruck, daß mit der Forderung nach einem größeren Engagement Deutschlands, sei es in der Syrien-Krise, im Irak, sei es in Afrika oder in Fragen militärischer Leistungsfähigkeit, häufig eigene Interessen verbunden sind. Die US-Amerikaner nennen das schlicht und einfach „burden sharing“. Dennoch macht diese Diskussion, in der alle möglichen Forderungen im Hinblick auf die deutsche Außenpolitik erhoben werden, ein tatsächliches Defizit sichtbar, nämlich die Frage nach deren strategischer Verortung. Was darunter zu verstehen ist, brachte der bereits erwähnte Charles Grant auf den Punkt: Strategisches Denken meine die Fähigkeiten eines Landes, „seine Interessen nicht hauptsächlich in handels- und wirtschaftspolitischer Hinsicht zu definieren und seine langfristigen Ziele samt der Mittel darzulegen, mit denen es diese zu erreichen hofft“. Grant hat hier die Kernfrage benannt: Welche langfristigen Ziele hat Deutschland? Bestehen diese Ziele wirklich nur darin, die wirtschaftliche Verflechtung immer enger zu gestalten, um den „Spielraum für Großmächte“ zu beschränken, wie es ein Experte ausdrückte.

Oder sind diese Ziele in der Erweiterung des Blicks um eine „moderne geopolitische Dimension“ zu suchen, wie es der Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, Dimitri Trenin, anregt. Deutschland, so argumentiert Trenin, müsse „über Europa hinausdenken“. Er fordert Berlin auf, sich gegenüber den USA zu emanzipieren („gleichrangige Partnerschaft“) und ein „modernes Eurasien-Konzept“ im Umgang mit Staaten wie China, Indien, Iran, Japan, Rußland und der Türkei zu entwickeln. Hierfür sollte sich Deutschland auch auf EU-Ebene, also im Europäischen Rat und im EAD stark machen.

In eine ähnliche Richtung argumentiert Zhou Hong, Leiterin eines Instituts für Europastudien in China. Für sie ist die Frage der strategischen Positionierung der deutschen Außenpolitik auch mit der Frage verbunden, wohin sich Deutschland als Staat entwickeln will. Soll Deutschland innerhalb der EU eine „eingehegte Kraft“ bleiben oder soll es sich zu einem „selbständigeren internationalen Akteur“ entwickeln? Aus „weltwirtschaftlichem Blickwinkel“, so Zhou Hong, dürfe „Deutschlands Außenpolitik nicht übermäßig ideologisch nach Westen ausgerichtet sein, sondern muß globaler orientiert sein“. Dafür müsse Deutschland in der EU „Wohlwollen und Unterstützung einwerben“.

Einer der wenigen, der der Frage Aufmerksamkeit widmet, ob Deutschland für die Forderung nach einer größeren globalen Führungsrolle überhaupt die nötigen Voraussetzungen mitbringt, ist Carlos Simonsen Leal, Präsident einer Stiftung in Rio de Janeiro.

Leal betrachtet die Positiv- und Negativfaktoren in fünf Kernbereichen, nämlich Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie Diplomatie und Geopolitik. Im letzteren Bereich konstatiert Leal für Deutschland eine Reihe von Problemfeldern: angefangen bei den Auswirkungen der Entwicklung hin zu einer zunehmend polyzentrischen Welt (langsamer Abstieg der USA, Aufstieg Chinas, eine eher desorientierte EU), über die begrenzten menschlichen Ressourcen auf deutscher Seite (außer Kanzlerin Merkel keine Persönlichkeit von internationalem Format), bis hin zu einer „unfertigen“ EU, einer überdehnten Nato sowie der schwelenden Rußlandfrage.

Ruf nach Vermittlung im neuen Ost-West-Konflikt

Das größte Dilemma für Deutschland, so resümiert Leal, bestehe „in der Tatsache, daß das Land einerseits zu groß für die EU und andererseits recht klein im Vergleich zu den internationalen Mächten auf der internationalen Bühne“ sei. Vor diesem Hintergrund ergebe sich, daß das Auswärtige Amt „ausgewählte Achsen der Stärke“ definieren sollte, an denen Deutschland seine Außenpolitik orientieren müßte. Dazu gehörte, daß Deutschland seine unabhängige Führungsrolle im geopolitischen Umfeld nutzt; dazu gehöre im weiteren auch eine dynamischere Rolle in der Europäischen Union.

Allein Deutschland könne im übrigen eine Vermittlerrolle zwischen der Nato auf der einen Seite und Rußland auf der anderen Seite übernehmen. Leal zeichnet hier eine Linie vor, die die Parole von einer „tätigen“ deutschen Außenpolitik mit Substanz füllt. Seine Stärken-/Schwächenanalyse zeigt, daß Deutschland nicht allen Wünschbarkeiten entsprechen kann. Weil dem so ist, bedarf es einer langfristigen Strategie. Das ist die zentrale Aufgabe, vor der die deutsche Außenpolitik steht.

In seiner Grundsatzrede zur Botschafterkonferenz am 25. August plädierte Steinmeier dann auch für eine aktivere deutsche Außenpolitik. „Kluge und aktive Außenpolitik“ sei „nicht mehr Kür, sondern unsere Pflicht“, schrieb der SPD-Politiker den Botschaftern ins Stammbuch und fügte Berlins Credo hinzu: „Aktive deutsche Außenpolitik gibt es nur in und durch Europa!“

 

„Außenpolitik weiterdenken“

Welche Schwerpunkte und Prioritäten sollte Deutschland in seiner Außenpolitik setzen? Was sind die außenpolitischen Themen der Zukunft? Für welche Werte stehen wir? Welche Interessen vertritt die deutsche Außenpolitik? Diesen Fragen widmet sich die neue Netzseite www.review2014.de. Sie ist Teil des von Außenminister Frank-Walter Steinmeier initiierten Projekts „Review 2014 – Außenpolitik weiterdenken“ und bietet die Gelegenheit zur Diskussion über die Außenpolitik von morgen. Review2014.de bietet zudem Hinweise auf kommende Veranstaltungen, Videos, Blogbeiträge und vieles mehr. Auch bei Twitter kann die Diskussion unter @Review2014 geführt werden. Der Hashtag lautet #Review2014.

www.review2014.de

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