© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Der Wahlverlierer darf entscheiden
Thüringen: Die geschlagene SPD kann den Ministerpräsidenten bestimmen
Paul Leonhard

Die Sozialdemokraten und damit die Wahlverlierer in Thüringen entscheiden, ob sie die Koalition mit der CDU fortsetzen oder einem sozialistischen Ministerpräsidenten zur Macht verhelfen. Letzterer hieße Bodo Ramelow und ist in seiner Wahlheimat so beliebt, dass es für ihn nicht einmal zum Direktmandat in seinem Erfurter Wahlkreis reichte. Immerhin erzielten die SED-Nachfolger mit 28,2 Prozent das zweitbeste Wahlergebnis. Politisch stärkste Kraft wurde erneut die CDU unter ihrer Spitzenkandidatin Christine Lieberknecht, der bisherigen Ministerpräsidentin, mit 33,5 Prozent.

Die Krux ist, daß sie nur regieren kann, wenn sie die SPD erneut mit ins Boot holen kann. Auch dann würde die Regierungsmehrheit mit 46 der 91 Landtagssitze denkbar knapp ausfallen. Weswegen zusätzlich mit den Grünen verhandelt werden soll, um mit einem breiteren Bündnis die „Verläßlichkeit im Land zu garantieren“, so Lieberknecht. Um die Gunst beider Parteien buhlen auch Ramelow und Genossen, die es dann ebenfalls auf 46 Sitze bringen würden. Keine Rolle in der Landespolitik spielen Liberale, Piraten, Freie Wähler und NPD, die allesamt an der Fünfprozenthürde scheiterten. Letztlich hatte nur knapp jeder zweite der 1,84 Millionen Berechtigten von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht.

Daß Lieberknecht auf Drängen der Bundes-CDU frühzeitig Koalitionsgespräche mit der Alternative für Deutschland (AfD), die mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke aus dem Stand 10,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, ausgeschlossen hat, rächt sich nun. Denn schon das Gedankenspiel, eventuell mit AfD (elf Landtagssitze) und Bündnisgrünen (6) verhandeln zu wollen, hätte Bewegung in die politische Szene des Freistaates gebracht. Unter den knapp 100.000 AfD-Wählern sind rund 18.000, die zuletzt der CDU ihre Stimme gaben, und rund 12.000, die bisher mangels politischer Alternativen den Wahlurnen ferngeblieben waren.

Während sich CDU und Linke als Wahlsieger fühlen, ist die Situation in der einzigen Partei, deren Regierungsbeteiligung definitiv feststeht, angespannt. Auch wenn SPD-Spitzenkandidatin Heike Taubert versichert, daß sie im Fall eines rot-rot-grünen Bündnisses keine „Probleme in den eigenen Reihen“ sieht, droht die Partei an dieser Frage zu zerbrechen. Von einem „strategischen Dilemma“ spricht Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein, der den bisherigen Landeschef Christoph Matschie ersetzen soll: „Die eine Hälfte neigt der Option Schwarz-Rot zu, die andere zu Rot-Rot-Grün.“

Daß die SPD vor der Wahl öffentlich damit geliebäugelt hat, ein Bündnis mit der Linkspartei einzugehen, hat zu einem Verlust von sechs Prozent der Wählerstimmen und zu ihrem Wahldesaster geführt. Es sei „schon erstaunlich, daß uns überhaupt noch 12,4 Prozent der Wähler ihre Stimme gegeben haben“, findet Gerd Schuchardt. Der frühere SPD-Fraktionschef im Thüringer Landtag und Vize-Ministerpräsident hatte als Spitzenkandidat mit dem Versprechen, daß es keine Zusammenarbeit mit der damaligen PDS geben werde, 1994 noch 29,6 Prozent für die SPD geholt. Mit dem Kurs einer vermeintlichen Machtoption Rot-Rot habe aber der Absturz der Sozialdemokratie bei allen folgenden vier Landtagswahlen begonnen.

Nicht nur Schuchardt befürchtet, daß die Linke in Sondierungsgesprächen „bei jeder Sachfrage einlenken, letztendlich auch das Blaue vom Himmel versprechen“ werde, nur um ihr strategisches Ziel zu erreichen: bundesweit den ersten Ministerpräsidenten zu stellen. Vor einem rot-rot-grünen Bündnis warnt gleichfalls der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn. Daran, daß die Linke noch immer von Stasi-Kadern durchsetzt ist, erinnert Rainer Wagner, Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft: Ein rot-rot-grünes Bündnis wäre ein Affront für alle ehemaligen politischen Häftlinge. In den sozialen Netzwerken drohen einst von der SED verfolgte Sozialdemokraten mit ihrem Parteiaustritt, falls es zu einem Bündnis mit Ramelow kommen sollte. Zerstritten sind auch die Bündnisgrünen. Während für Spitzenkandidatin Anja Siegesmund eine Zusammenarbeit mit der CDU „nur sehr schwer vorstellbar“, eine Koalition mit Linken und SPD dagegen eine „ernsthafte Option“ ist, verweisen ehemalige Bürgerrechtler auf die wiedergewählte linke Landtagsabgeordnete Ina Leukefeld, die einst für die politische Kriminalpolizei der SED spitzelte.

Letztlich steht Thüringen vor einer ähnlichen Situation wie 2009. Damals entschied sich die Thüringer SPD gegen eine mögliche Regierungskoalition mit Linken und Bündnisgrünen, und für eine Koalition mit der CDU. Die Thüringer SPD-Mitglieder hätten es nun in der Hand, so Schuchardt, das Ansehen der Partei bei der Mehrheit der Thüringer, aber auch bundesweit zu wahren und die verfehlte Rot-Rot-Strategie zu beenden. Schließlich hätten die bisherigen schwarz-roten Koalitionen gute Arbeit geleistet und bei allen Ärgernissen das Land vorwärtsgebracht.

Foto: Linken-Spitzenkandidat Ramelow, CDU-Ministerpräsidentin Lieberknecht: Noch ist der Ausgang offen

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