© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

„Wir sind alle Afrikaner“
Spitzenforschung zur Paläoanthropologie mit leisen multikulturellen Untertönen
Jens Meusel

Die Forschung über die Ursprünge des modernen Menschen ist in den letzten zwei Jahrzehnten mit großen Schritten vorangekommen. Neben dem Max-Planck-Institut (MPI) für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist es die Frankfurter Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, die daran den größten Anteil hat, wie aus einer breitgefächerten Präsentation ihrer Projekte im Hausorgan der Gesellschaft hervorgeht (Senckenberg. Natur – Forschung – Museum, 7-8/2014).

Die Erkenntnisfortschritte der Paläoanthropologie sind wesentlich das Resultat eines Methodenwechsels, weg von der vergleichenden Morphologie und Anatomie hin zur Genetik und Isotopenanalyse. Die Paläogenetik, die Regelmäßigkeiten in der Veränderung des Erbgutes (der DNA) erfaßt, ist in der Lage, ungleich präziser die Abstammung von Homo sapiens sowie seine Ausbreitung und Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren als die „klassische“ Paläoanthropologie, die vom 19. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre den Forschungsstandard setzte. Diese war beschränkt auf anatomische Vergleiche, auf die Untersuchung typischer Hominidenmerkmale wie aufrechter Gang oder Gehirnvergrößerung sowie auf vergleichende Verhaltensbeobachtungen von Menschenaffen.

Mit morphologischen Vergleichen nicht zu klären

Zuletzt endete der morphologische Vergleich menschlicher und tierischer Fossilien jedoch in einem erbittert geführten Streit, der sich auf der Grundlage morphologischer Merkmale nicht entscheiden ließ. Dabei standen sich Forscher gegenüber, die mit Funden zu belegen glaubten, daß sich direkte Vorfahren des „modernen Menschen“ zur selben Zeit in Eurasien und Afrika entwickelten und auf den Kontinenten nur ein geringer genetischer Austausch zwischen Populationen stattfand. Also wäre der Neandertaler der Stammvater der heutigen Europäer. Demgegenüber behauptete die andere Fraktion, der anatomisch moderne Mensch sei allein in Afrika entstanden und habe sich vor etwa 50.000 Jahren von dort über andere Kontinente ausgebreitet.

Diese Kontroverse konnte, wie Johannes Krause (MPI für Geschichte der Naturwissenschaften Jena) in einem kurzen wissenschaftshistorischen Rückblick darlegt, erst entschieden werden, als die Paläoanthropologie Ende der achtziger Jahre von der Genetik frische Impulse erhielt. Analysen von Mitochondrien (mtDNA), einem kleinen Teil des mütterlicherseits weitergegebenen Erbguts, zeigten, daß die größte genetische Diversität in Afrika besteht und alle Nicht-Afrikaner auf nur einen Zweig im afrikanischen Stammbaum der mtDNA zusammenlaufen.

Wie Krause pointiert multikulturalistisch resümiert: Auf Basis der mtDNA-Analysen seien alle heutigen Menschen „Afrikaner“, und wir alle hätten einen „bunten Migrationshintergrund“. Wobei Krause so redlich ist, diese zeitgeistige Überspitzung zu relativieren mit dem Hinweis auf die Argumente jener Kritiker, die gegen diese genetischen Daten einwenden, daß das Genom des modernen Menschen seit 50.000 Jahren starken Veränderungen ausgesetzt gewesen und nicht mehr repräsentativ für seine frühe Evolution sei. Auch könne man mit der mtDNA nur die maternale Verwandtschaft aufzeigen. Somit sei nicht auszuschließen, im Kerngenom andere „Signale“ zu finden.

Gleichwohl haben jüngste paläogenetische Untersuchungen des Neandertalers die „Afrikaner“-These erheblich gefestigt. Zum einen dadurch, daß 1997 eine kurze mtDNA-Sequenz des Neandertaler-Genoms entschlüsselt werden konnte, die sich an vielen Stellen von der DNA des heutigen Menschen markant unterschied. Die Neandertaler waren damit unwiderlegbar als separate ausgestorbene Menschenlinie identifiziert, was die 150 Jahre währende Debatte über die Herkunft des Homo sapiens zugunsten der „Afrikaner“ entschied.

Analyse stabiler Isotope aus Knochen und Zähnen

Zum anderen gelang 2010 mit Hilfe neuer DNA-Sequenziertechniken noch die Entschlüsselung des ersten gesamten Genoms eines Neandertalers, die nachwies, daß die Ausbreitung des aus Afrika ausgewanderten Menschen und die Verdrängung des Neandertalers eine nur sehr geringe genetische Vermischung zur Folge hatte. Alle heutigen Nicht-Afrikaner tragen daher nur 2,5 Prozent Neandertaler-DNA in sich und stammen zu 97,5 Prozent aus Afrika.

Während die auch von Krause mitgestaltete „atemberaubende Entwicklung“ der molekularen Stammesgeschichte das zentrale Rätsel der Evolution – Herkunft und Ausbreitung des modernen Menschen – gelöst zu haben scheint, ist über die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt vor und nach Ankunft der über Griechenland und über die auch heute beliebte „Sizilien-Route“ einwandernden Afrikaner in Europa wenig bekannt.

Das will ein ambitioniertes Arbeitsprogramm der Senckenberg-Gesellschaft ändern. Hinter dem Wort­ungetüm „Geobiodiversitätsforschung“ verbirgt sich ein interdisziplinärer, ganzheitlicher Zugriff auf die Evolution der Anthroposphäre. Die soll auf vier Ebenen erschlossen werden. Grundlage ist die Evolution und Systematik der Organismen; Studien, die sich auf den immensen Reichtum der Frankfurter Sammlungen stützen können. Darauf aufbauend sollen die großen Lebensräume der Erde in Langzeitmeßreihen in ihrem Verhältnis von Ökosystemen und Biodiversität erkundet werden. Auf der dritten Ebene konzentriert man sich auf die Wechselwirkung zwischen Klimawandel und Wandel der Biodiversität, während schließlich auf der vierten Ebene ein ebenfalls aktuelles Problemfeld betreten wird: die erdgeschichtliche Entwicklung in ihrer Abhängigkeit von der Biodiversitätsentwicklung.

So hoffen die Wissenschaftler, das komplexe Zusammenwirken von Umweltveränderungen und biologischer und kultureller Evolution des Menschen in der Zeit zwischen drei Millionen und 20.000 Jahren vor Christus rekonstruieren zu können. Wobei nicht zuletzt die Analyse stabiler Isotope aus Knochen und Zähnen pleistozäner Tiere tiefe Einblicke in untergegangene Ökosysteme gestatten würde. Keine unberechtigte Hoffnung, wie der Aufsatz des Biogeologen Hervé Bocherens (Tübingen) zeigt, der die Leistungsfähigkeit der neuen Methode am Beispiel der detaillierten Informationen über Lebensbedingungen in der Mammutsteppe, der zeitweiligen Heimat von Neandertalern wie „Afrikanern“, demonstriert.

www.senckenberg.de

Foto: Visualisierung einer Mammutsteppe im Pleistozän: Zeitweilige Heimat von Neandertalern und des modernen Menschen aus Afrika

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