© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Zeitschriftenkritik: Tumult
Den Konsens stören
Werner Olles

Der globale Finanzkapitalismus gibt heute ein Tempo vor, dem die Formprinzipien der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Regeln und Gesetze zur Bändigung oder zumindest Einhegung des Globalismus wirken immer öfter schon zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens antiquiert und unbrauchbar. Dennoch schreit die Gesellschaft geradezu nach Neuem, vergräbt sich indes hinter Werten, die längst den Bach herunter gegangen sind. Die Geschichtsmetphysik der Moderne im Zeitalter durchstaatlichter Gewalt – die auf seltsame Weise immer mehr staats- und rechtsfreie Räume hervorbringt –, bedeutet in diesem Sinne nichts anderes als die krisenhafte Auflösung der nationalstaatlichen Ordnung. Und jeder nostalgische Kurs auf eine bereits abgeschlossene Epoche variiert nur das Marxsche Diktum für die aktuelle Situation: Es genügt nicht, daß die Wirklichkeit zum Gedanken drängt, es muß auch der kritische Gedanke zur Wirklichkeit drängen.

Tumult, die von Frank Böckelmann und Walter Seitter herausgegebene „Vierteljahresschrift für Konsensstörung“ beschäftigt sich in ihrer aktuellen Ausgabe (Sommer 2014) unter anderem mit dem „westlichen Machbarkeitswahn“, dem „Netzwerkimperium USA“ und seinen „Dollarkriegen“, den „Phantasmen Privatheit und Macht im Netz“ und Panajotis Kondylis nachgelassenen Notizen zur Sozialontologie. Wobei Böckelmann und Horst Ebner in ihrem Editorial keinen Zweifel daran lassen, daß man sich in Tumult wieder „am Anfang des Erkennens“ sieht: „Wir haben den Verdacht auf Terra incognita zu leben. Faustdicke Überraschungen warten auf uns.“ Doch stecke dahinter „keine weltumspannende Verschwörung, denn die Gleichschaltung von heute – das ist die neue Form der Offenheit selbst“, und „der Individualitätszwang des Massenmenschen im frühen 21. Jahrhundert“ äußere sich darin, nicht festgelegt zu sein. Konkreter kann man den „wachsenden Konsensdruck durch global vernetzte, machtvolle Sinnproduzenten, die im Zusammenschluß mit der vom Finanzkapital beherrschten Weltwirtschaft und den ihnen servil zuarbeitenden Wissenschafts- und Forschungsproduzenten die neokonforme öffentliche Meinung inszenieren“, nicht beschreiben.

Ob sich Gesellschaftskritik einen Gefallen tut, wenn sie in das allgemeine Öffnungsgeschwätz einstimmt, darf bezweifelt werden. In seinem Beitrag „Keine Souveränität für niemand“ untersucht Böckelmann die „virtuelle Schrankenlosigkeit“ im Internet und deren weltumspannende Infrastruktur, in der Heerscharen von konformen „Querdenkern“ ihre Weltoffenheit und antidogmatische Haltung ausbreiten und dabei eine Öffnungsrhetorik verlogener Vorurteilslosigkeit präsentieren. Offenheit meint hier im Klartext die Offenheit gegenüber den Zumutungen eines Systems, das nur noch eine Karikatur auf Privatheit, Souveränität und Identität darstellt. „Konsensstörung“ ist daher das Gebot der Stunde.

Kontakt: Frank Böckelmann, Nürnberger Str. 32, 01187 Dresden. Das Einzelheft kostet 8 Euro, ein Jahresabo 32 Euro. www.tumult-magazine.net

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