© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

„Wir sind keine Einheitspartei“
Streitgespräch: AfD-Sprecher Bernd Lucke und Partei-Vize Alexander Gauland über die Sicht der Partei auf Rußland, den Willen der Basis und die Kunst, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen
Marcus Schmidt

Am 17. Juli hat das Europäische Parlament eine Entschließung zur Ukraine-Krise angenommen. In dem Dokument wird unter anderem die Vorbereitung von weiteren Sanktionen gegen Rußland befürwortet. Auch die AfD-Europaabgeordneten Bernd Lucke, Hans-Olaf Henkel, Bernd Kölmel und Joachim Starbatty stimmten für diese Resolution – und sorgten damit in Teilen der Partei für Empörung. Nach Ansicht der Kritiker haben die vier die Ukraine-Resolution des Erfurter Parteitages mißachtet, in der Sanktionen gegen Rußland abgelehnt werden. AfD-Vize Alexander Gauland warnte daraufhin vor einer Spaltung der Partei. Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT versuchen Lucke und Gauland, den Streit zu entschärfen.

Herr Lucke, haben Sie mit Ihrer Zustimmung zur Rußland-Resolution des Europäischen Parlaments den Willen der Parteibasis der AfD mißachtet?

Lucke: Wir haben zur Ukraine einen Parteitagsbeschluß gefaßt und zu diesem Beschluß stehe ich. Er hat zwei Komponenten: Erstens haben wir gesagt, in der instabilen Situation kurz nach der Annexion der Krim durch Rußland sei es falsch, Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Das halte ich auch heute noch für richtig. Zweitens haben wir gesagt, daß es keine weiteren Versuche Rußlands oder irgendwelcher anderen Mächte geben dürfe, sich Teile des Territoriums der Ukraine anzueignen. Die Resolution des Europäischen Parlaments droht Sanktionen an, falls genau das geschieht. Sozusagen falls Rußland sich nicht an unseren Parteitagsbeschluß hält. Falls Rußland die Lage weiter destabilisiert, falls es in der Ukraine militärisch interveniert. In bestimmtem Maße tut Rußland das ja wohl schon, aber noch haben wir nicht den Quantensprung eines vollen militärischen Einmarsches. Aber wenn es dazu käme, hielte ich es für richtig, sehr entschieden zu reagieren und das jetzt, bevor es möglicherweise geschieht, auch unmißverständlich zu sagen. Damit das Kind erst gar nicht in den Brunnen fällt.

Herr Gauland, Sie haben das Abstimmungsverhalten mit Verweis auf die Erfurter Ukraine-Resolution scharf kritisiert und als unloyal gegenüber der Parteibasis bezeichnet. Ist der Parteitagsbeschluß nicht sowieso von den Ereignissen der vergangenen Wochen überholt worden?

Gauland: Nein, das würde ich bis heute gar nicht sehen. Ich habe schon in meiner Rede in Erfurt darauf hingewiesen, daß wir, also der Westen, an dieser Entwicklung mitschuldig sind. Wir haben Rußland, und das ist immer mein Vorwurf gewesen, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht auf Augenhöhe behandelt. Wir haben nie angeboten, eine gemeinsame europäische Ordnung aufzubauen.

War die Ostausdehnung von Nato und EU in Ihren Augen ein Fehler?

Gauland: Ja, und ich glaube, daß man sich hierbei nicht nur auf die Frage des Selbstbestimmungsrechtes der betreffenden Länder festlegen soll. Es gibt auch Regeln, die besagen, man sollte sich einem großen Nachbarn gegenüber politisch klug verhalten und nicht provozieren. Die Versuche des Westens, immer mehr Staaten in das westliche Bündnis und in die EU einzubeziehen, haben die Russen nicht nur als Provokation, sondern auch als Verschiebung des Gleichgewichtes aufgefaßt. Das heißt, das Selbstbestimmungsrecht findet für mich schon seine Grenzen an politischer Klugheit, und das ist hier versäumt worden. Das sagt auch Helmut Schmidt, der nicht der AfD nahesteht.

Lucke: Für mich ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht verhandelbar. Wir können als AfD nicht für ein Europa souveräner Nationen sein und gleichzeitig Rußland einen Hegemonialanspruch gegenüber seinen Nachbarn einräumen. Ich stimme zwar Herrn Gauland zu, daß Rußland sich von der Nato schlecht behandelt fühlt, und vielleicht hätte die Nato bei ihrer Osterweiterung auch sensibler vorgehen können. Aber das ist kein legitimer Grund, ein kleines Land zu destabilisieren, das der Nato gar nicht angehört. Die Ukraine hat ein Selbstbestimmungsrecht, und gerade wir als AfD sollten da keine Kompromisse machen. Ich sage das übrigens in beiden Richtungen. Sowohl das ukrainische Volk als auch die russischen Bevölkerungsgruppen in der Ukraine haben ein Selbstbestimmungsrecht, und beide sollen dem in demokratischer Weise Ausdruck verleihen können. Etwa in Referenden, aber dann bitte mit einer fairen Fragestellung und nicht so wie auf der Krim, wo man sich nur für den einen oder den anderen Weg des Anschlusses an Rußland entscheiden konnte.

Und dieses Selbstbestimmungsrecht rechtfertigt notfalls Sanktionen?

Lucke: Völkerrechtsverstöße rechtfertigen Sanktionen. Das Selbstbestimmungsrecht ist Teil des Völkerrechts, aber akut geht es wohl eher um eine mögliche militärische Intervention in einem Nachbarland. Wollen wir es achselzuckend hinnehmen, daß Konflikte in Europa nicht mehr nach dem Völkerrecht, sondern nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden? Und wenn nicht, dann ist doch wohl klar, daß wir auf keinen Fall militärisch reagieren dürfen. Also bleiben Wirtschaftssanktionen. Die schaden zwar beiden Seiten. Aber wenn man sie rechtzeitig androht, überlegt sich die andere Seite vielleicht doch, ob sie den Schaden in Kauf nehmen möchte.

Herr Gauland, sind Sanktionen für Sie in so einer Situation auch akzeptabel?

Gauland: Wir können nicht in die Zukunft schauen. Ich würde nie „nie“ sagen. Aber Stand heute, das sehe ich genauso wie Herr Lucke, gibt es keinen Quantensprung, und wir hören von Waffenstillstandsverhandlungen und dem Versuch, zu einer Lösung in der Ukraine zu kommen. Ich möchte nochmal ganz deutlich darauf hinweisen, daß wir 1989 den Russen versprochen haben, die Nato nicht über die Oder auszudehnen. Dennoch wurde das gemacht. Ich habe das Gefühl, daß Putin mit der Destabilisierung der Ukraine verhindern wollte, daß das Land Nato-Mitglied wird oder der EU beitritt. Ich bin nicht sicher, daß er wirklich eine Angliederung der Ukraine will. Aber hier wird eine Politik deutlich, die längst vor Stalin und der Sowjetunion russische zaristische Politik war. Indem Putin sagt: Gut, wenn ich keine eigene Ordnung bekomme mit den Europäern zusammen, dann muß ich soviel wie möglich vom alten Territorium, das russisch besiedelt ist, wieder zurückholen. Dann bin ich größer und stärker. Das mag nicht richtig sein, das mag völkerrechtswidrig sein, aber es ist zumindest historisch verständlich.

Steht es der Ukraine mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht frei, ob sie der EU oder der Nato beitritt?

Lucke: Es steht ihr frei, den Beitritt zu beantragen. Aber das Selbstbestimmungsrecht gilt für alle. Es steht den Staaten der EU oder der Nato frei zu entscheiden, ob sie den Beitritt wollen und ob sie das für politisch klug halten.

Gauland: Genau. Völlig richtig.

Lucke: Wir sind uns einig, daß die Ukraine weder in die Nato noch in die EU gehört. Jedenfalls so lange nicht, wie sie nicht ein stabiler, tadellos demokratischer Staat ist. Ich möchte aber doch noch mal auf die Themen Selbstbestimmung und Völkerrecht zu sprechen kommen. Oder auf Wirtschaftssanktionen, denn eigentlich begann der Konflikt lange vor dem Maidan mit russischen Wirtschaftssanktionen gegen die Ukraine. Erinnern Sie sich: Die Ukraine hat unter Präsident Janukowitsch mit der EU über ein Assoziierungsabkommen verhandelt. Sie hat damit nur ihr Selbstbestimmungsrecht wahrgenommen. Aber Rußland gefiel das nicht. Es verhängte im August 2013 Wirtschaftssanktionen gegen die Ukraine. Das führte zur Absage Janukowitschs an die EU und dann zum Aufbegehren der Bevölkerung auf dem Maidan. Wenn wir als AfD das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochhalten, dann müssen wir auch klar sagen, daß die russischen Importschranken, die nach Angaben der Regierung Janukowitsch angeblich Milliardensummen betrafen, unzulässiger Druck auf einen souveränen Staat waren. Wir müssen das Selbstbestimmungsrecht auch gegenüber Rußland einfordern. Darüber hinaus dürfen wir das Budapester Memorandum von 1994 nicht vergessen. Damals hat sich die Ukraine verpflichtet, ihre Atomwaffen an Rußland auszuhändigen oder zu zerstören. Im Gegenzug sagte Rußland völkerrechtsverbindlich zu, niemals wirtschaftlichen Druck auf die Ukraine auszuüben, nie den Einsatz russischer Waffen gegen die Ukraine zuzulassen und die Grenzen der Ukraine – einschließlich der Krim – anzuerkennen. Gegen all das hat Rußland seither verstoßen. Das war treulos gegenüber einem kleinen Staat, der um des Weltfriedens willen auf seine Atomwaffen, seinen einzigen Trumpf, verzichtet hatte. Und es war eindeutig völkerrechtswidrig und vertragsbrüchig. Darüber darf die AfD als eine Partei, die Vertragsbrüche auf europäischer Ebene geißelt, nicht einfach hinwegsehen.

Also ist doch Rußland für den Konflikt verantwortlich?

Gauland: Nein. Rechtlich ist das völlig richtig, was Herr Lucke sagte. Auch das, was er über das Budapester Memorandum sagt. Politisch würde ich es trotzdem etwas anders sehen. Es wäre klug gewesen, Rußland miteinzubeziehen und tatsächlich, wenn es denn möglich gewesen wäre, das Assoziierungsabkommen mit der EU in einem Dreieck zu verhandeln, also Brüssel, Moskau und Kiew. Denn eins ist doch völlig klar: Rußland hat die Ordnung, wie sie nach 1989 festgeschrieben worden ist, nie akzeptiert. Viele dieser Verträge wurden Rußland in einer Phase der Schwäche auferlegt. Ich gebe Herrn Lucke aber recht, daß wir natürlich den Rechtsbruch nicht zulassen können. Aber wir werden diesen Konflikt nicht lösen, wenn wir nicht Rußland insgesamt eine neue Ordnung anbieten, und da bin ich halt nicht so ganz bei Ihnen, Herr Lucke.

Ist diese Position Ihrer Ansicht nach in der AfD mehrheitsfähig?

Gauland: Ich glaube, es gibt ein Grundgefühl in der Partei, das weg will von einer zu starken amerikanischen Dominanz. Das weg will davon, daß deutsche Außenpolitik nicht immer bei uns gemacht wird. Ein Gefühl, das findet, daß die Souveränität, die Deutschland hat, jetzt auch bei relevanten Entscheidungen zum Tragen kommen muß. Und dafür ist diese Rußlandfrage im Grunde genommen fast so etwas wie ein Symbol.

Lucke: Ja, das ist teilweise auch mein Eindruck, aber ich muß das trotzdem einschränken. Denn wie die Abstimmung über unsere politischen Leitlinien gezeigt hat, wird die Westbindung Deutschlands in der AfD mehrheitlich bejaht. Ich denke, die meisten Mitglieder wollen, daß wir innerhalb der Nato von den USA als ein ebenbürtiger Partner behandelt werden – und viele finden, gerade auch vor dem Hintergrund des NSA-Skandals, daß das nicht immer der Fall ist. Aber deshalb wollen sie nicht gleich eine ganze Sicherheitsarchitektur aufgeben, die sich mit 70 Jahren Frieden insgesamt ja sehr bewährt hat.

Glauben Sie, daß es in dieser Frage einen Ausgleich zwischen Ihrer Position und der von Herrn Gauland geben kann?

Lucke: Wir sind doch nicht wie die Altparteien, wo jeder immer derselben Meinung sein muß. Herr Gauland und ich können beide sehr gut damit leben, daß wir nicht in allen Punkten die gleiche Auffassung haben. Das ist doch nicht schlimm, und da muß gar nichts ausgeglichen werden. Man muß nur in Ruhe miteinander sprechen, denn das Problem ist ja sehr vielschichtig. In Zweizeilern auf Facebook kann man schlecht diskutieren. Aber dafür führen wir ja dieses Gespräch. Damit machen wir nicht nur deutlich, daß wir Gemeinsamkeiten haben und wo die Unterschiede sind, sondern auch, daß die Partei demokratisch und pluralistisch ist. Und daß wir mit Respekt und Achtung mit Meinungsvielfalt in unserer Partei umgehen.

Gauland: Da bin ich mit Herrn Lucke völlig einer Meinung. Das schöne an der AfD ist, daß wirklich diskutiert wird. Daß über Inhalte gestritten wird und daß nicht von oben oder von irgendwem vorgegeben wird, was zu tun oder zu lassen ist. Und daß es auch unterschiedliche Gruppen gibt mit unterschiedlichen Ansichten. Ehrlich gesagt, wenn es das nicht mehr gäbe in der Partei, hätte ich viel größere Probleme, als die, die wir jetzt diskutieren.

Wie werden sich die Europa-Abgeordneten der AfD bei künftigen Abstimmungen verhalten, wenn die Position der Partei ebenfalls nicht einheitlich ist?

Lucke: Es gibt bei uns keinerlei Fraktionszwang – weder in der ECR-Fraktion noch in der AfD-Gruppe. Jeder Abgeordnete folgt einfach seinem Gewissen und stimmt so ab, wie er es für richtig hält. Und darauf bin ich stolz. Wir sind nicht wie die Grünen, die in ihrer Anfangszeit ein imperatives Mandat von ihren Parlamentariern gefordert haben. Daß die Partei vorgibt, wie der Abgeordnete zu stimmen hat, ist ja schon deshalb falsch, weil das eine Bevormundung der Wähler wäre. Und die Wähler haben sich natürlich vor allem am Wahlprogramm orientiert, das sicherlich unser aller Grundüberzeugung ist. Die Ukraine kam darin übrigens nicht vor.

Herr Gauland, Sie haben davor gewarnt, daß der Partei die Spaltung droht, wenn etwa bei der Frage des Türkei-Beitritts oder beim Freihandelsabkommen wieder Abgeordnete von der Parteilinie abweichen.

Gauland: Natürlich bin ich immer für das freie Mandat gewesen. Es ist einer der großen Erfolge des englischen Parlamentarismus. Aber natürlich muß ich bei der Ausübung dieses freien Mandates Rücksicht nehmen auf die, die mich in diese Rolle gebracht haben. Würden etwa unsere Abgeordneten im EU-Parlament für einen Beitritt der Türkei stimmen, würde ich die Gefahr der Spaltung sehen. Ja. Beim Freihandelsabkommen ist das schwierig, das kann man noch nicht voraussagen.

Lucke: Ich sehe nicht, daß es irgendeinen Disput über die Frage des Türkei-Beitritts geben wird. Und Freihandel haben wir ja in unserem Wahlprogramm ausdrücklich bejaht, aber wir haben auch gesagt, daß es keine Schiedsgerichte außerhalb unserer Rechtsordnung oder eine Verwässerung von Verbraucherschutz und Sozialstandards geben darf. Und um das beurteilen zu können, müßte man endlich mal wissen, was genau in diesem Abkommen drinsteht. Erst dann kann man sich dazu eine Meinung bilden. Etwas allgemeiner denke ich, daß wir in der Partei über das Spannungsverhältnis zwischen Basisdemokratie und Meinungsfreiheit des einzelnen Mitglieds oder Abgeordneten noch mal ausführlich sprechen müssen. Denn einerseits will die Basis natürlich mitbestimmen, andererseits lehnen eigentlich alle Fraktionsdisziplin und ein imperatives Mandat ab.

Gauland: Ja, das ist ein riesiges Problem, aber das ist normal für eine Partei, die frisch angefangen hat und natürlich immer wieder mit organisatorischen Problemen kämpft.

Lucke: Wir müssen vor allem lernen, daß man bitte schön nicht jede Meinungsverschiedenheit mit voller Schärfe hochspielt, sondern daß man den Blick für das Wesentliche behält, was wir in Deutschland verändern wollen.

Gauland: Da bin ich mit Herrn Lucke völlig einverstanden.

Fotos: Bernd Lucke: „Völkerrechtsverstöße rechtfertigen Sanktionen“; Alexander Gauland: „Grundgefühl gegen amerikanische Dominanz“; Lucke, Gauland, JF-Redakteur Schmidt: Zweizeiler auf Facebook

 

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