© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Serhii Plokhii weist nach, schon Gorbatschow plante die Annexion der Ostukraine
Russisches Déjà-vu
Michael Wiesberg

Wenn nicht alles täuscht, hat der Harvard-Historiker Serhii Plokhii in seiner jüngsten Publikation „The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union“ (2014) eine der großen „Erzählungen“ über das Ende des Kalten Krieges korrigiert. Die USA reklamierten bekanntlich für sich, diesen Krieg gewonnen zu haben, sprich: den Kommunismus aus Osteuropa verdrängt und Rußland im Zaum gehalten zu haben.

Plokhii – auch Plokhy geschrieben –, der bei seinen Recherchen Zugang zu bislang unter Verschluß gehaltenen Dokumenten in den USA, Rußland und der Ukraine hatte, kommt in seiner Arbeit hingegen zu ganz anderen Ergebnissen: Während nationale Kräfte in der Ukraine, im Baltikum und im Kaukasus danach strebten, den Käfig Sowjetunion zu sprengen, tat die Regierung George Bush senior lange Zeit alles, um die UdSSR zusammenzuhalten. Der Zeitraum, den der in Deutschland bislang wohl nur Experten bekannte Plokhii fokussiert, umfaßt vor allem die fünf Monate vor dem Ende der UdSSR, von Juli bis Ende 1991. Von zentraler Bedeutung in dieser Phase waren nach Plokhii die Unabhängigkeitsbestrebungen der geostrategisch so bedeutsamen Ukraine. Jelzin und Gorbatschow reklamierten für diesen Fall die Krim, den Donbass im Osten und die Küste im Süden der Ukraine für Rußland – mit dem Argument, diese Regionen seien russisch.

Die Parallellen zu heutigen Entwicklungen sind unübersehbar. Doch konnte Moskau sich mit dieser Auffassung beim damaligen ukrainischen Präsidenten Krawtschuk nicht durchsetzen. Dieser hatte dank eines abrupten Meinungswechsels in Washington, das sich plötzlich anders besann und Krawtschuks Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützte, eine breite Brust.

Die Washingtoner Falken um den damaligen Verteidigungsminister Dick Cheney waren zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Auseinanderfallen der UdSSR durchaus im Interesse der USA sei; ohne die Ukraine würde Rußland ihrer Meinung nach nie wieder eine Bedrohung darstellen. Eine Sowjetunion ohne Ukraine war für Rußland indes nicht mehr von Interesse, auch deshalb, weil es durch die muslimischen Republiken überstimmt zu werden drohte. Da eine Sowjetunion ohne Rußland für die anderen Sowjetrepubliken aber undenkbar war, zerfiel die Union.

Plokhii hat mit seinem Buch nicht nur zu einem vertieften Verständnis der Vorgänge in der Endphase der Sowjetunion beigetragen, sondern mit Blick auf die Ukraine auch heutige Motive auf russischer Seite erhellt, die in westlichen Medien in der Regel keine Beachtung finden. Vor seiner Berufung nach Harvard im Jahr 2007 lehrte der 1957 im russischen Nischni Nowgorod geborene Historiker in Kanada. Zwischen 2002 und 2005 erhielt er für seine umfangreichen Arbeiten dreimal den ersten Preis der Amerikanischen Gesellschaft für ukrainische Studien.

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