© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Der Flaneur
Kein Herzog sieht mehr zu
Sebastian Hennig

Der langgestreckte Markt der thüringischen Residenzstadt zeigt sich um die Mittagszeit mäßig belebt. Um die nährenden und tränkenden Holzhütten scharen sich einige Gäste. Von der Traufe einer dieser Buden baumeln Säcke mit Ketchup und Senf. An einem der Säulentischchen trinken zwei stämmige Männer Limonade aus Kunststofflaschen. Die Herausforderungen des Werktags bedingen Nüchternheit. Nüchtern wird das verlorene Fußballspiel diskutiert. Die Frage nach dem aktuellen Verlauf der Spiele macht die Runde: „Hast du das gesehen heut’ vormittag?“ „Nur Ausschnitte.“

Nach kurzem Wortwechsel trennt man sich wieder. „Holst du mich ab?“ Keine Antwort.

Da kommt ein Dicker auf dem Fahrrad freihändig in weiter Bahn quer über das Pflaster des Marktes geholpert. Sein Bruder in der Statur ruft hämisch vom Wurstgrill herüber: „Fall nisch runder!“ Sofort haschen die Hände nach dem Lenker.

Trotz der schattenlosen Sonnenhitze fordert der Hauptmarkt dazu auf, längs und quer darüber zu promenieren. So läßt sich der Eindruck städtischer Weitläufigkeit erfahren, während man sich selbst als Anblick präsentiert. Kapitale Bäuche schieben sich durch die heiße Luft. Ein älteres Paar geht eingehängt. Er an der Krücke, in kurzen Hosen und gestreiftem Hemd, hat sich die Socken hochgezerrt. Sie trägt weiße Kurzhaarfrisur mit schlabberigem Oberteil. Gut, daß es kein Herzog mehr sehen kann.

Dann treffen drei Personen auf dem Gehweg zusammen, die offenbar Flick-Existenzen einer Patchworkfamilie sind. Nach kurzem Wortwechsel trennt man sich wieder. „Holst du mich ab?“ Keine Antwort. Warum auch? Absprache ist ja kurzfristig per Funk möglich.

Die Frau muß nun schräg über den Markt zur Arbeit eilen. Der Mann bleibt zurück. Während die Sensation ihres kurzen grünen Kleides über den Pflasterspiegel steuert, um am gegenüberliegenden Ufer unter den Passanten zu verschwinden, nagt der kurzhemdsärmelige Brillenträger weiter an seiner Brezel und blickt gebannt aufs Handtelefon. Der Junge schleicht an der Häuserzeile die Gasse hinab.

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