© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Vordenker eines erneuerten Katholizismus
Herold religiöser Authentizität: Wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren fiel der französische Schriftsteller und Modernekritiker Charles Péguy an der Marne
Felix Dirsch

Da haben wir ihn heilig. Dieser Tote ist ein Führer, dieser Tote wird mehr als je handeln, dieser Tote wird mehr als jeder andere lebendig.“ Maurice Barrès schrieb diese Worte in einem Nachruf auf Charles Péguy. Der Romancier und Politiker der Rechten urteilte, so wird im nachhinein deutlich, weise. Péguy darf aus heutiger Sicht als der einflußreichste Vertreter des Renouveau catholique gelten, bedeutsamer selbst als die Schriftsteller Léon Bloy und Paul Claudel, denen eine längere Lebenszeit beschieden war.

Diese (sehr heterogene) Richtung versuchte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Wert des inneren Glaubens statt einer rein institutionalisierten Sicht von Kirche hervorzuheben. Péguys Wirkung auf das Zweite Vatikanum ist unübersehbar, hat doch der zweite Konzilspapst, Paul VI., stets seine Hochschätzung für den so herausragenden Autor bekundet.

1873 in Orléans in einer Handwerkerfamilie geboren, ist Péguy doch in mancherlei Hinsicht Zeitgenosse des heutigen Christen. Er lebte in einer Zeit vielfältiger Umbrüche. So veränderten um 1900 die Metro und die Umgestaltung des Stadtbildes durch den Stadtplaner und Präfekten Georges-Eugène Haussmann das Lebensgefühl der Pariser nachhaltig. Das Problem der Entwurzelung und der Loslösung vom Glauben kannte der äußerst vielseitige Denker, der sich als Buchhändler, Buchhalter, Buchdrucker, Essayist, Publizist, für kurze Zeit als Soldat und noch darüber hinaus vielseitig betätigte, nur zu gut. Zwar erlebte er eine von tiefer Frömmigkeit geprägte Kindheit auf dem Lande. Jedoch wendete er sich in seiner universitär-mondänen Zeit vom Glauben ab.

In seine Studienzeit fiel der aufsehenerregende Prozeß gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus. Er spaltete die französische Gesellschaft und führte das Land an den Rand des Bürgerkriegs. Militär, Adel, Kirche und Teile des Bürgertums empfanden die Rehabilitierung der Galionsfigur der Linken als schmachvoll. Der Interims-Laizist Péguy, stets philosemitisch eingestellt, engagierte sich auf seiten der Erben der Französischen Revolution von 1789. Zu vielen exzellenten Geistern, besonders zu dem neuen Stern am Intellektuellenhimmel, Romain Rolland, pflegte er enge Kontakte.

Doch der christliche Glaube ließ Péguy nicht los. Dies war einer der Gründe für den Bruch mit den Sozialisten und ihrem Hoffnungsträger, dem leidenschaftlichen Antiklerikalen Jean Jaurès, im Jahre 1899. Ihn beschuldigte er „des Verrates im Solde der imperialen, imperialistischen, kapitalistischen, kolonialen deutschen Politik“.

Plädoyer für starke Gemeinschaftsbindungen

Kurz darauf begründete Péguy eine Zeitschrift, die Cahiers de la Quinzaine, mit deren Hilfe er sich (trotz geringer Auflagen) Gehör verschaffen konnte. 1905 kam es zum großen Schisma. Die Sozialisten setzten die strikte Trennung von Staat und Kirche durch – mit Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart, wie die Diskussionen um einen Gottesbezug in der Europäischen Verfassung vor rund einem Jahrzehnt zeigten, der vor allem durch Interventionen von Politikern aus Frankreich und Belgien verhindert wurde. Zu dem nationalistischen Schriftsteller und atheistischen Aktivisten der Action Française, Charles Maurras, hielt Péguy trotz einiger Übereinstimmungen Abstand.

Péguy äußerte seine Meinung stets mit Leidenschaft. So verfaßte er „Das Mysterium der Erbarmung Jeanne d’Arcs“, das auf einem historischen Drama aufbaute. Die große französische Nationalheilige wurde 1909 heiliggesprochen. In diesem Stück rückte er von einer im Katholizismus des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Ansicht ab, die besagt, das menschliche Dasein habe lediglich nach Rettung der Seele zu trachten. Péguy sieht irdische Not sowie die althergebrachte Scheidung in Verdammte und Auserwählte als hinderlich für die Speise des „Brotes Jesu Christi“. Offenkundig ist sein Versuch, die nationale Sache mit der katholischen zu verbinden – eine Synthese, die trotz der säkularistischen Grundstimmung um die Jahrhundertwende in Frankreich relativ leicht eine Basis gefunden hat.

Typisch für den Polemiker wider die Moderne ist die Schrift „L’argent“. Sie beschwört den Geist der ehrlichen Arbeit, wie er sie auf dem Land kennengelernt hat. Im Gegensatz dazu habe die wachsende Relevanz des Geldes das Zusammenleben der Menschen beeinträchtigt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Herrschaft des Finanziellen betont er die „Armut“, oft zwangsweises Schicksal, als Tugend und ihren Wert als frei gewählte Lebensform.

Besonders anstößig für heutige Rezipienten ist der Essay „Notre jeunesse“, 1910 veröffentlicht in den Cahiers. Dieser Text befaßt sich aus der Retrospektive mit dem Dreyfus-Engagement und bewertet, in partieller Vorwegnahme der Thesen Julien Bendas, die Rolle des Intellektuellen kritisch. Weiter geht er auf den für ihn zentralen Begriff der Mystik ein, der freilich öfter unklar bleibt. An einer Stelle schreibt er von der Mystik als „Quell aller großen Bewegungen, aller großen Parteiungen“. Die Mystik soll von der Politik nicht verschlungen werden. Hier setzte Péguy einen Kontrapunkt gegen die vorherrschenden Strömungen von Empirismus und Positivismus.

Häufig hat man Péguy des Irrationalismus bezichtigt, wofür es Anhaltspunkte gibt. Sätze wie der folgende sind für manche Kritiker ein rezenter Indikator für die Rassismus-Nähe des Verfassers: „Ich werde mein reines Blut so zurückgeben, wie ich es empfangen habe“. Péguys Metaphorik der Authentizität des Lebens und sein Plädoyer für starke Gemeinschaftsbindungen müssen jeden Liberalen, der lediglich ökonomisch zu befriedende, aber keine existentiellen Konflikte mehr in Erwägung zieht, vor den Kopf stoßen.

Beschäftigung mit einem Unzeitgemäßen

Péguy ist ein Autor, an dem sich viele Gegenwartsinterpreten reiben. Manchen Deuter spricht zwar das utopisch-pazifistische, sozialistisch eingefärbte Frühwerk an. Der spätere, integralistisch ausgerichtete Katholismus wird indes durchweg abgelehnt – und das, obwohl der kämpferische Katholik vieles an seiner Kirche bemängelte, vornehmlich ihre Verbürgerlichung und ihren Institutionalismus. Ebenso wird sein angeblicher Chauvinismus aufs Korn genommen.

Um so erfreulicher ist es, daß gerade in den letzten Jahren eine verstärkte Beschäftigung mit dem Querdenker festzustellen ist. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Politiker und Zentrist François Bayrou als auch der aktuell meistgelesene Schriftsteller Frankreichs, Michel Houellebecq, haben sich mit dem Werk des Umstrittenen auseinandergesetzt. Zum hundertsten Todestag brachte die Intellektuellenzeitschrift Merkur, ansonsten für religiöse Bezugnahmen wenig aufgeschlossen, einen ausführlicheren Beitrag zum Gedenktag.

Vielleicht ist die rege Neuaufnahme des Unzeitgemäßen in einigen europäischen Ländern ein Hinweis darauf, daß Péguy, der schon am 5. September 1914 wenige Wochen nach Kriegsbeginn bei Villeroy von einer deutschen Kugel tödlich getroffen wurde, zu den großen Untoten der französischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts zählt.

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