© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Gemeinsam schlechter werden
Traurige Bilanz der Schulpolitik: Die Bildungsrepublik Deutschland ist weit zurückgefallen
Konrad Adam

Vor mehr als einer Generation haben die Bildungsreformer mit ihrer Drohung Ernst gemacht, das deutsche Schulwesen umzukrempeln. Jetzt können wir zurückblicken und uns fragen, was die Reform gebracht hat – und was nicht. Die Bilanz fällt ziemlich traurig aus. Nachdem im ehemals geachteten und bewunderten deutschen Schulsystem kein Stein mehr auf dem anderen bleiben durfte, ist die Bildungsrepublik Deutschland weit zurückgefallen. Um aufzuholen, müssen die Deutschen, die früher einmal Vorbild waren, nun ihrerseits kopieren. Und sie kopieren denkbar schlecht.

Es begann mit dem Versprechen von mehr Chancengleichheit. Mehr für diejenigen zu tun, die weniger mitbrachten, war ein hochherziges, in Deutschland überfälliges Programm; das hierzulande allerdings gründlich verdorben worden ist. Der Amerikaner Christopher Jencks, einer der Väter des Programms, hatte gewarnt: Vollkommene Chancengleichheit lasse sich, wenn überhaupt, nur dann herstellen, wenn alle Bindungen zwischen Eltern und Kindern restlos beseitigt würden. Denn die Verschiedenheit der Elternhäuser werde sich so oder so auf die Kinder vererben, wenn man die Eltern nicht vollständig entmündige.

Das war als Warnung gedacht, wurde in Deutschland allerdings als Einladung verstanden, das Elternhaus durch die Schule nicht etwa zu ergänzen, sondern zu ersetzen. Eltern, so einer der Maulhelden von damals, seien Laien und Dilettanten, die durch Profis, Leute wie ihn, abgelöst werden müßten.

Mittel zu diesem Zweck war die Einheitsschule, alias Gesamtschule, alias Gemeinschaftsschule, alias Stadtteilschule. Der Name mußte immer wieder wechseln, weil diese Schulform bei jedem, der sie näher kennenlernte, schnell in Verruf geraten war. Die Einheitsschule, hatte einer ihrer Anhänger verkündet, sei nicht dazu da, die Kinder lesen und schreiben oder zivile Umgangsformen zu lehren; sie habe das einzige Ziel, die Kinder gleich zu machen. Nicht die Wiese mit den vielen, bunten Blumen sei ihr ästhetisches Ideal, sondern die glattrasierte, öde Rasenfläche. Sobald Eltern, denen das Schicksal ihrer Kinder am Herzen lag, so etwas vernommen hatten, machten sie um die Gesamtschule einen weiten Bogen.

Was haben die Gesamtschulgläubigen nicht alles unternommen, um ihren blutleeren Theorien Leben einzuhauchen! Kein Schulversuch war zu teuer, kein Stundenplan zu kompliziert, kein Lernzielkatalog zu ausgefallen oder zu verschroben, um ihn nicht mit gewaltigem Tamtam ins Werk zu setzen. Was ist davon geblieben? Von den horrenden Kosten abgesehen, die von den zu Versuchstieren degradierten Kindern zu tragen waren, fast nichts. Profitiert hat nur die höchst private und reichlich teure Nebenschule, Nachhilfeunterricht genannt. Sie lebt davon, die Lücken zu stopfen, die das Reformschulwesen immer wieder reißt. Und verdient damit Millionen und Milliarden.

Als die Bewegung noch im Anfang war, hatte ein friedensbewegter Gesamtschullehrer seinen Unterricht zur „erziehungsfreien Zone“ ausgerufen. Auf die naheliegende Frage, wo seine Schüler denn das Lesen und das Schreiben lernten, hatte er geantwortet: Zu Hause! So ist es auch gekommen – und hat das Chancengleichheitsversprechen in sein Gegenteil verkehrt. Denn Nachhilfe ist teuer – für diejenigen, die weniger mitbringen, also kaum erschwinglich. Statt die Benachteiligten zu fördern, hat die kompensatorisch genannte Erziehungs-ideologie die ohnehin schon Geschädigten noch einmal geschädigt.

Angleichung nach oben ist zeitraubend und teuer, Angleichung nach unten billig und schnell zu haben; deswegen entscheidet sich der routinierte Gleichsteller für die Angleichung nach unten. Unterschiede sind ihm verdächtig, müssen beseitigt oder jedenfalls versteckt werden; also keine Noten, keine Zeugnisse und kein Sitzenbleiben. Daß sein erzieherischer Auftrag darin bestehen könnte, Neigungs- und Begabungsunterschiede zu entdecken, zu entwickeln und im Ergebnis dann auch zu vertiefen, hält der Reformbegeisterte für eine Botschaft des Klassenfeindes. „Ein Raum, ein Kind, ein Lehrer“ heißt seine Devise.

Bildung gilt ihm als Ware, die man durch Umverteilung gleich verteilen kann, Unterricht als eine Art Nullsummenspiel, bei dem der eine das erhält, was einem anderen abgenommen worden ist. Wenn das nicht funktioniert, weil es viel leichter ist, Talente abzuwürgen als zu züchten, bleibt immer noch die Nivellierung, der gemeinsame Weg nach unten im bewußt heterogen zusammengewürfelten Klassenverband. Kein Mensch käme auf den Gedanken, Höchstleistungen von einem Orchester zu erwarten, in dem Dorfmusikanten mit den Berliner Philharmonikern gemeinsam auftreten; nur in der Schule soll das anders sein. Da sollen alle profitieren, die stärkeren genauso wie die schwächeren Schüler.

Auf diesem Holzweg sind die deutschen Bildungspolitiker weit vorangekommen. Blickt man zurück, erkennt man einen Berg von Altpapier: Normenbücher, Rahmenrichtlinien und Lernzielkataloge, die niemand liest, wahrscheinlich nie gelesen hat, da sie von Banalitäten nur so strotzen. In einem einzigen Bundesland (Nordrhein-Westfalen)wurde ein einziges Schulfach, der Sportunterricht, mit Handreichungen überschwemmt, die fünf Bände mit insgesamt weit über tausend Seiten füllten. Dort erfährt man, daß blinden Schülern „das nachahmende Erlernen grundlegender Bewegungsabläufe auf visuellem Wege“ schwerfällt, während taube Kinder „durch den Ausfall der akustischen Wahrnehmung“ zurückgeblieben sein könnten.

Auch aus dem Unfug läßt sich etwas lernen: daß es sich auszahlt, beim rasenden Fortschritt eine Runde auszusetzen. Lieber die zweit- oder drittbeste Schule ihre Arbeit machen lassen, als Zeit und Geld auf den Versuch verschwenden, die eine Schule für alle Kinder zu entwerfen – die es dann aber doch nicht gibt.

Was wir brauchen, sind mehr Lehrer; jedenfalls keine Bildungsforscher, die uns im besten Falle über das belehren, was wir längst schon wissen. „Stasi in die Produktion!“, die schöne Parole der Wendezeit, könnte als Muster dienen, um eine Wende unter dem Motto einzuläuten: „Erzieher an die Schulen!“

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