© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Ein Schritt vor – zwei zurück
Ost-Ukraine: Der Kreml wird den Stellvertreterkrieg fortsetzen / Destabilisierung des Nachbarlandes als Fernziel
Thomas Fasbender

In den vergangenen Augusttagen wurde offenbar, was westliche Politiker und Medien seit Monaten mutmaßen. Russen kämpfen auf seiten der Separatisten in den selbsterklärten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk in der Ost-Ukraine – und das in erheblichem Umfang.

Ein Anführer der Aufständischen, Alexander Sachartschenko, Premierminister der Volksrepublik Donezk, am Donnerstag der Vorwoche: „Wir haben nie geleugnet, daß sich unter uns viele russische Staatsbürger befinden, ohne deren Hilfe wir heute in einer sehr schwierigen Lage wären. Insgesamt waren es vielleicht drei- oder viertausend. Viele davon sind wieder zu Hause. Die Mehrheit ist jedoch geblieben.“

Sachartschenko unterstrich, daß die Russen nicht als Soldaten kämpften, sondern „beurlaubt“ seien. Diese Aussage fügt sich in die offizielle russische Position, wonach es in der Ukraine „keine russischen Militäreinheiten“ gibt. Genau das hat der ständige Vertreter Rußlands bei der OSZE, Andrej Kelin, nach dem Bekanntwerden von Sachartschenkos Worten wiederholt und hinzugefügt: „Seit Wochen hat man uns dessen beschuldigt. Wir haben das bislang dementiert, und wir dementieren das auch heute. Derartige Anschuldigungen machen keinen Sinn.“

Sanktionsschrauben der EU erfreuen Kreml-Strategen

Jenseits aller diplomatischen Spitzfindigkeiten rätseln die Beobachter, was Moskaus eigentliche Ziele sind. Noch Mitte August schien der gut informierte russische Kolumnist Andrej Kolesnikow der Ansicht, Putin habe die Option eines unabhängigen „Noworossija“ von Transnistrien bis Donezk ad acta gelegt. Um so überraschter war die Weltöffentlichkeit, als die Separatisten unmittelbar nach dem Minsker Vier-Augen-Gespräch der Präsidenten Petro Poroschenko und Wladimir Putin im äußersten Südosten der Ukraine eine dritte Front eröffneten und in einem raschen Vorstoß – mit offensichtlicher russischer Hilfe – die grenznahe Stadt Nowoasowsk eroberten.

Gleichzeitig gelang es den Aufständischen, ukrainische Armeeeinheiten einzukreisen. In einem persönlichen Brief drei Tage nach dem Minsker Treffen forderte Putin die Separatisten auf, Korridore für die Eingeschlossenen zu öffnen. Dazu paßte, daß kurz darauf in einer zwischen Kiew, den Separatisten und Moskau konzertierten Aktion sowohl die zehn russischen Fallschirmjäger freigelassen wurden, die am Vortag des Minsker Treffens den Ukrainern in die Hände gefallen waren, als auch fast 300 ukrainische Gefangene der Separatisten. Gut sechzig Ukrainer, die wenige Tage zuvor mit der Bitte um Asyl die russische Grenze überschritten hatten, wurden zudem ihrer Regierung überstellt.

Diese Politik von Zuckerbrot und Peitsche unterstrich Putin, als er in einem Interview am Wochenende zu Gesprächen über die „Staatlichkeit“ der Ostukraine aufrief. Sein Sprecher Dmitrij Peskow ruderte zwar sofort zurück und betonte, der Präsident habe die Integrität der Ukraine zu keiner Zeit in Abrede gestellt, doch das Wort bleibt in der Welt.

Die Lage ist komplex und verworren. Der Moskauer Politologe Vladislav Kaschin vertritt die Ansicht, auch die Minsker Gespräche seien nur vor dem Hintergrund anhaltender Geheimverhandlungen zwischen Rußland, der Ukraine, den USA und der EU zu bewerten. Am Mittwoch der Vorwoche, einen Tag nach dem Minsker Treffen, bestätigte das finnische Außenministerium Informationen der amerikanischen Monatszeitschrift The Atlantic, wonach es im Juni in Helsinki zu solchen Verhandlungen gekommen sei.

Kaschin wörtlich: „In weiten Teilen ist diese Krise das Resultat einer zuvor nicht gekannten Manipulation der öffentlichen Meinung in Rußland, der Ukraine und in Europa. Das Ausmaß der Manipulationen ist dergestalt, daß es keinem der Akteure angenehm sein wird, wenn es je ans Licht gelangt. Das Minsker Treffen war nur ein Meilenstein mit dem Ziel, die öffentliche Aufmerksamkeit von den eigentlichen Vorgängen abzulenken.“

Russische Meinungsumfragen, die man im Kreml nach Aussage aller Eingeweihten stets aufmerksam verfolgt, verzeichneten für den August mit 87 Prozent die bislang höchste Unterstützung für den Regierungskurs. Das gab das allgemein als professionell eingeschätzte Lewada-Zentrum Ende des Monats bekannt. Demnach sehen 70 Prozent der russischen Befragten ihr Land nicht als Schuldigen für das Blutvergießen in der Ost-Ukraine.

Auffallend ist, daß die Zahl der uneingeschränkten Befürworter eines militärischen Engagements Rußlands in der Ost-Ukraine von 36 Prozent im März auf 13 Prozent im August stark zurückgegangen ist. Trotzdem bleibt die Menge der russischen Unterstützer der prorussischen Kräfte in der Ost-Ukraine mit knapp 50 Prozent seit Monaten auf demselben Niveau. Auf 41 Prozent gestiegen ist zudem die Zahl jener, die glauben, eine eigenstaatliche Lösung sei die beste Zukunft für die ostukrainischen Gebiete (März: 25 Prozent).

Auch die politische Konfrontation mit dem Westen schlägt sich in den Zahlen nieder. Obwohl drei Viertel der Befragten Preissteigerungen entweder bereits erleben oder zumindest erwarten, unterstützen 78 Prozent die russischen Gegensanktionen, etwa das Embargo westlicher Lebensmittel.

74 Prozent der russischen Bevölkerung hegen inzwischen den USA gegenüber negative Gefühle; gegenüber der EU sind es mit 60 Prozent nicht sehr viel weniger. Der auch im Alltag spürbare Jetzt-erst-recht-Patriotismus stärkt die Zuversicht. Hatten im März noch 56 Prozent der Russen Sorgen anläßlich einer politischen Isolation ihres Landes, waren es im August nur mehr 32 Prozent.

Wie ein Großteil der russischen Experten sieht Dmitrij Trenin, Direktor des Carnegie-Zentrums in Moskau, in der Sanktionsschraube eine aus Sicht des Kreml sogar noch begrüßenswerte Legitimation des harten politischen Kurses. Indem die russische Regierung mit ihren Gegensanktionen nur defensiv reagiert, kann sie den Westen zum Aggressor stempeln; gleichzeitig stärken die gemeinsamen Opfer den Zusammenhalt der in ihrem Selbstverständnis „unschuldigen“ russischen Gesellschaft.

Übereinstimmend prognostizieren Trenin, Kaschin und andere, daß der Kreml den Stellvertreterkrieg in der Ost-Ukraine fortsetzen wird, solange Kiew an seiner harten Antiterror-Linie festhält. Dahinter steht nicht zuletzt das Kalkül, daß es in der Ukraine spätestens zum Jahresende hin zu innenpolitischen Konflikten kommt, die dann auch der Westen mit den schönsten Worten nicht aus der Welt reden kann.

Der Preis für diese Politik ist eine langfristige Eiszeit zwischen Moskau, Brüssel und Washington, an der schon jetzt in Rußland kaum noch jemand zweifelt.

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