© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Ums nackte Überleben kämpfen
Befreiung sieht anders aus: Tausende deutsche „Wolfskinder“ gehörten zu den Opfern des Weltkrieges
Wolfgang Paul

Erstaunlich ist es schon, daß dieser Film zustande gekommen ist. Geht es doch um deutsche Opfer in und nach dem Zweiten Weltkrieg, um deutsche Kinder im sowjetisch besetzten Ostpreußen, die ihre Eltern verloren haben und nur noch überleben wollen. Gejagt werden sie von Rotarmisten, die Deutschland nach derzeit gültiger Lesart befreit haben. Doch eine Befreiung sieht anders aus.

Als die sowjetische Armee ab Oktober 1944 um Ostpreußen kämpfte, kam es zu „unvorstellbaren Grausamkeiten gegen die Bevölkerung“, wie es im Großen Brockhaus von 1955 heißt. Leidtragende waren auch die Kinder, Tausende müssen es gewesen sein, die im Grenzgebiet von Ostpreußen und Litauen herumirrten. Wolfskinder wurden sie genannt, weil sie in der Natur lebten, wie Wölfe eben, und sich aus reiner Vorsicht von Gehöften und Siedlungen fernhielten. „Wolfskinder“ hat Regisseur und Drehbuchautor Rick Ostermann (siehe Interview auf Seite 3) sein Spielfilmdebüt denn auch genannt, das er sorgfältig anhand von Zeitzeugenberichten und mit Unterstützung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ recherchiert hat.

„Sommer 1946 – Ostpreußen und Litauen unter sowjetischer Verwaltung“, das ist die einzige Information, die der Zuschauer auf einem Zwischentitel zu Beginn des Films erhält. Er habe eine emotionale, spannende und ebenso brutale wie direkte Erzählung über Leben und Tod, über Kindheit und Gewalt, über Schuld und Unschuld beabsichtigt, sagt Rick Ostermann. Und: „Auf eine historische Verklärung der Opfer des Zweiten Weltkrieges wurde verzichtet.“

Der Filmemacher ist sich sehr wohl bewußt, daß er sich auf dem verminten Gelände der Politischen Korrektheit bewegt. So vermeidet er zwar jede politische Argumentation, schont aber das Kinopublikum nicht, wenn es um die Darstellung der hungernden, ums nackte Überleben kämpfenden Kinder geht. Da werden die Überreste von Vogeleiern, die mühsam aus einem Nest gestohlen wurden, von den Händen und aus dem Inneren eines Beutels abgeleckt, da wird ein Pferd erschossen, um Nahrung zu bekommen, da wird einem vorbeikommenden Bauern ein kleiner Junge als Hilfskraft gegen zwei Äpfel mitgegeben. Eine herzzerreißende Szene, denn für den Jungen bedeutet dieser Handel die Trennung von seiner Schwester.

Nachdem ihre Mutter gestorben ist, machen sich der vierzehnjährige Hans und sein kleiner Bruder, Fritzchen genannt, gemeinsam auf den Weg nach Litauen. Dort sollen sie auf einem Bauernhof unterkommen. Die Mutter hoffte, daß die Litauer Deutsche aufnehmen. „Hans Uwe Arendt“ und „Fritz Ludger Arendt“ hat die Mutter vor ihrem Tod die Buben wiederholt sagen lassen. Das sind ihre Namen, die sie nie vergessen sollen. Es sind ihre Verbindungen zur Zivilisation. Doch es sind vergiftete Verbindungen, denn diese Namen weisen sie als Deutsche aus, und die sind vogelfrei, zum Abschuß freigegeben. Das wird schnell klar, als sie sich unter dem Beschuß sowjetischer Soldaten bei einer Flußüberquerung verlieren. Fortan muß sich Hans ohne Fritzchen durchschlagen. Am Ende werden sich beide in einer Szene wiedertreffen, die wie ein Traum erscheint. Einer von beiden wird seine Identität geändert haben. Er wird bei einem litauischen Bauern wohnen und Jonas heißen. „Jonas, der ein eigenes Bett hat und nicht mehr hungern muß“, wird er dem Bruder entgegnen, der ihn an seinen „wahren“ Namen erinnert.

Hans ist zu Beginn zurückhaltender, vorsichtiger als sein kleiner Bruder. Der gibt den Ton an. Als die beiden Jungen auf zwei Mädchen treffen und im nächsten Moment getrennt werden, wächst Hans in die Rolle des Anführers einer kleinen Kinderschar, die immer wieder Zuwachs bekommt und Verluste erleidet. An ihm orientieren sich die Jüngeren, an ihm und an der gleichaltrigen Christel. Hans und Christel entscheiden, wie es weitergeht. Sie müssen immer wieder abwägen, ob die Gruppe zusammenbleibt oder Schwächere zurückläßt.

Es wird spannend werden und Aufschluß über den gegenwärtigen Stand des politischen Diskurses in Deutschland geben, wie Kritiker und Publikum nun den Film „Wolfskinder“ beurteilen werden. Verzichtet doch Regisseur Ostermann völlig auf Nazis und Hinweise auf deren Schandtaten. Ihm gehe es um „den archaischen Aspekt der Geschichte“, er habe „die historischen und politischen Facetten“ in den Hintergrund gestellt und den „Schwerpunkt auf das physische Erleben und Erleiden der Kinder“ gelegt.

Konsequent erzählt er seine Geschichte in Bildern (Kamera: Leah Striker) mit nur wenig Dialog, der manchmal allerdings etwas aufgesagt klingt. Aber das ist ein kleiner Nebenaspekt, der dem Film keinen Abbruch tut. Auf den ostpreußischen Dialekt wurde gänzlich verzichtet, vermutlich, um die Sache nicht zusätzlich zu komplizieren. Denn die archaische Welt des Films ist ja meilenweit von der Erfahrungswelt der Smartphone-Generation entfernt.

Dieses Problem hat Ostermann offenbar mit viel Einfühlungsvermögen gelöst. Allen voran glänzt der 1999 geborene Levin Liam in der Rolle des Hans. Mit seinen kurzen Haaren über dem schmalen, verschrammten Gesicht, mit seinem scheuen, skeptischen Blick kann man ihn sich kaum als netten Jungen von nebenan vorstellen. Die ebenfalls 1999 geborene Helena Phil hat sich in ein verhärmtes Nachkriegsmädchen mit Zöpfen verwandelt, das sich über die einfachsten Segnungen der Zivilisation unbändig freuen würde. Und die mehrfach prämierte Jördis Triebel gibt eindrucksvoll eine Mutter, die sich mit letzter Kraft um ihre Kinder kümmert.

„Wolfskinder“ ist keine leichte Kost für einen Kinoabend, es ist ein erschütternder Film über die Opfer eines Krieges. Daß diese Opfer deutsche Kinder sind und, wie in einer Szene zu sehen ist, auch erwachsene Deutsche, macht sie nicht zu mehr oder weniger Leid Tragenden. Daß von ihnen erzählt wird, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Foto: Filmszene aus „Wolfskinder“: Eine emotionale, spannende und ebenso brutale wie direkte Erzählung über Kindheit und Gewalt, Leben und Tod

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