© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Pankraz,
M. Solana und der Sieg der Dystopien

Eine neue Literaturgattung hat sich in den letzten Jahren auch hierzulande fest etabliert: die „Dystopie“. Es ging 2008 los mit Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, setzte sich fort mit Juli Zehs Bühnenspektakel „Corpus delicti“ und Tom Tykwers Film „Cloud Atlas“, und heute gibt es schon resümierende Doktorarbeiten über das Phänomen wie Hans Esselborns „Utopie, Antiutopie und Science-fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts“.

In Japan und den USA sind sie freilich schon weiter. Dort werden, blickt man auf den Quantitätsausstoß, offenbar nur noch Dystopien geschrieben. „LinkedIn“, das einflußreiche digitale Netzwerk „zur Pflege bestehender Geschäftskontakte und zum Knüpfen von neuen geschäftlichen Verbindungen“, hat schon ein großes Warngeschrei angestimmt. Es dürfe nicht angehen, so der LinkedIn-Lobbyist Michael Solana in Wired, daß die Science-fiction-Literaur nur noch Dystopien abliefere. Sie denunziere und behindere dadurch den technischen Fortschritt und werde zu einer Gefahr für das Wohlergehen der Menschheit.

Dystopien sind nicht einfach sarkastische Gegenutopien wie einst George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, sondern sie haben den Gedanken der „Utopie“, also eines erträumten „Landes Nirgendwo“ (nichts anderes bedeutet „Utopie“), vollständig beiseite gelegt, sie wollen keine Utopien mehr liefern, auch keine Gegenutopien, sondern „nur“ genaueste Wirklichkeitsbeschreibung ohne jede Illusion und Vorspiegelei, nur ein bißchen ins Morgen vorgeschoben.

So war es nur konsequent, daß Juli Zeh seinerzeit den Kurd-Laßwitz-Preis für Science-fiction, der ihr für „Corpus delicti“ verliehen werden sollte, rundweg ablehnte, trotz der schönen Geldsumme, die damit verbunden war. Denn sie zielte nicht auf Science-fiction, sondern auf Science-reality, ähnlich wie Martin Walser in seinem vielgelästerten Roman „Tod eines Kritikers“. Die dort beschriebene Verwandlung des literarischen Lebens in eine sexgeschwängerte, von Indiskretion und „Event“ erfüllte „gläserne Manege“ war keineswegs als Fiktion gemeint, sondern eben als pure Dystopie.

Pankraz seinerseits ist nicht ganz einverstanden mit der Ersetzung der Utopie durch die Dystopie im modernen Geistesleben. Sicherlich, Dystopien können (wie übrigens auch in Wired, wo der Aufsatz von Solana erschien, korrigierend gegen ihn eingewandt wird) „eine gesunde Dosis Skepsis transportieren, und die Fähigkeit, intelligent Kritik zu üben, zählt zu den wichtigsten, basalsten Qualitäten, über die eine gebildete Öffentlichkeit verfügen muß, um ihre Autonomie und Macht in einer sich rasant wandelnden Welt zu bewahren“. Aber speziell für die Literatur taugen solche Einwände wenig.

Daran ändert auch die Tatsache wenig, daß der Begriff der Utopie ziemlich dubios ist, von Haus aus ein Gefäß für märchenhafte Erzählungen aus dem Lande Nirgendwo, die sich manchmal mit chiliastischer Hoffnung auf ein irdisches Paradies aufluden. Die wahrhaft metaphysischen Bestände, ohne die der Mensch (und insbesondere seine Literatur) nicht leben kann, Glaube und Hoffnung, Sehnsucht nach Erlösung und Vollkommenheit, wurden seit jeher von der Religion verwaltet, und diese ließ nie Zweifel daran, daß es sich um transzendente Werte handelte, welche nicht gegen irdische Münze einlösbar waren.

Erst die mit der Aufklärung einsetzende Säkularierung, der allgemeine Glaubensschwund und der Nihilismus verschafften der Utopie ihren Logenplatz in der Geistesgeschichte. Sie war ein Surrogat, ein Ersatz. In ihr überwinterte, was von Glaube und Hoffnung übriggeblieben war. Ihre Imaginationen reichten allenfalls aus, um hier und da einmal verelendete Bauern oder Manufakturarbeiter zur momentanen Revolte zu führen. Nie und nimmer hat sie es vermocht, den großen, aus Nihilismus und Verzweiflung geborenen Gegenwurf gegen die von der Aufklärung in Diesseits und Jenseits geteilte Lebenswelt zu organisieren.

Vielmehr war es – scheinbar – die moderne Wissenschaft, die diese Kraft lieferte. Nicht der utopische Traum, sondern die wissenschaftliche Illusion von der totalen Machbarkeit und Verfügbarkeit der Natur und des Menschen übernahm die Macht. Marx, Engels e tutti quanti verstanden sich nicht als Utopiker, sondern als Wissenschaftler. Sie plädierten nicht für das Offenhalten des geschichtlichen Horizonts, sondern für seine Schließung. Alles brauchte nur noch seinen „gesetzlichen Gang“ zu gehen. Das Reich der Freiheit war für sie von Anfang an nichts weiter als ein Reich eherner (eventuell auch mörderischer) Notwendigkeiten.

Bedenkt man das, so muß man der neuen dystopischen Literatur (und Kunst) wohl eine beträchtliche Beimischung transzendentalen, zumindest utopischen Sprechens und Gestaltens empfehlen, damit sie nicht selber banal und stockig werde. Denn in faktisch sämtlichen Lebensbereichen drohen uns heute Zustände, wie sie in den Werken der Dystopiker kalt und genau thematisiert werden: Alles versteht sich angeblich von selbst, zu allem gibt es „wissenschaftliche Studien“, die alternativlose Konsequenzen nach sich ziehen.

Dagegen hilft nicht allein Genauigkeit und Kälte der Beschreibung; es muß ein guter Schuß Utopie und Wärmestrom hinzutreten, damit ein wirkliches Kunstwerk entstehe und eine Sprache, die standhält. Und das gilt nicht nur im Blick auf den einzelnen und sein spezielles Schicksal, sondern auch und nicht zuletzt für das Ganze.

Es ist ein schlimmer Irrtum zu glauben, offene, auf Konflikt-

ausgleich programmierte Gemeinschaften brauchten nur ein bißchen Common sense, ein bißchen Kunst des Durchwurstelns, um dauerhaft bestehen zu können. Sie brauchen machtvolle Anfangsmythen und offene, utopische Horizonte, und sie brauchen Bilder von dem, was sein sollte und was werden kann.Sie brauchen eine dystopisch-utopische Literatur.

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