© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Neue Mythen im Umerziehungslager
Der Soziologe Jost Bauch über den Antifaschismus als neue Basiserzählung in Deutschland
Thorsten Hinz

Der Mythos war vor dem Logos. Die längste Zeitspanne der Menschheitsgeschichte war vom Mythos geprägt.“ Diese unumstößlichen Sätze leiten das erste Kapitel des neuen Buches „Mythos und Entzauberung“ des Soziologen Jost Bauch ein. Die Zeit der Mythen war – meinen die Fortschrittsgläubigen – eine Periode des Aberglaubens, der Dunkelheiten und des Fatalismus, die erst vom Licht des Rationalismus und der Aufklärung erhellt wurde.

Spätestens seit Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ gehört es aber zum Allgemeinwissen, daß die Dekonstruktion des Mythos neue Mythen erzeugen und in eine neue und womöglich schlimmere Unmündigkeit und Abhängigkeit führen kann, wenn nämlich das mythische Wissen über Mensch und Gesellschaft – das bereits eine Art Frühaufklärung darstellt – negiert wird. „In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung der materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig“ und kommt es zur „Vernichtung des Subjekts“.

Ein Beispiel bietet die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus, die bereits in ihren Ursprüngen von voraufklärerischen Elementen durchdrungen war. Indem viele ihren mythisch-religiösen Gehalt verleugneten, wurde sie zum Dogma verengt und das Subjekt auf das Ausführungsorgan einer vermeintlichen historischen Notwendigkeit reduziert – mit den bekannten mörderischen Konsequenzen.

Die Grenze zwischen Mythos und Ratio ist, wie Bauch schreibt, in Wahrheit bloß „imaginär“. Die Mythen sind gespeichertes Wissen, im Chaos bilden sie ein Ordnungsprinzip und machen Unvertrautes vertraut. Es sind „Basis-erzählungen“, aus denen sich Ritualisierungen und Tabus ableiten, die im menschlichen Zusammenleben stabilisierend wirken. Sie haben eine ähnliche Funktion wie Religionen, mit denen sie sich überkreuzen und verbinden können und eine anhaltende politische Wirkung entfalten. Das gilt für den Schweizer Gründungsmythos, der auf den Legenden des Rütli-Schwurs und Wilhelm Tells basiert. Aus ihm beziehen die Schweizer die Kraft, den Anmaßungen der Europäischen Union zu trotzen.

Auch in Deutschland haben die Mythen bis in die jüngere Vergangenheit eine große Bedeutung besessen. Der deutsche Einheitsstaat wurde erst spät vollendet und deshalb um so intensiver auf der symbolischen und mythischen Ebene beschworen. Mit der Folge, daß das mythologische das politische Denken ungebührlich kontaminierte. Zu den deutschen Mythen zählen die Nibelungen-Treue, Luthers gesinnungsfester Aufstand gegen das angeblich heuchlerisch-dekadente Rom – Spuren davon finden sich auch im deutschen Idealismus – oder das „Mirakel des Hauses Brandenburg“: der Tod der russischen Zarin Elisabeth, der Preußen im Siebenjährigen Krieg vor der Katastrophe bewahrte. Bauch bezieht sich explizit auf das Buch „Deutsche Mythen“ von Herfried Münkler (den er fast durchweg „Münckler“ schreibt). Andere wichtige Gewährsleute sind Hans Blumenberg, Mircea Eliade und George Sorel, für den die Mythen stets die „organisierende Kraft einer jeden sozialen Bewegung“ blieben.

Gegebenes als das moralisch Wünschbare annehmen

In der Bundesrepublik werden die politischen Mythen im Zeichen der postnationalen Zivilgesellschaft und eines bewußten Verfassungspatriotismus für obsolet erklärt. Doch wieviel altdeutsche Prägungen und mythische Spuren stecken darin. Ihre bedeutsamste Transformation ist der Antifaschismus – ein deutscher Nachkriegsmythos, der in zweierlei Formen existierte. In der Bundesrepublik wurde die NS-Geschichte „internalisiert“ und zur hypermoralischen Angelegenheit des einzelnen gemacht, in der DDR hingegen als eine extreme Phase innerhalb der weltweiten Klassenauseinandersetzung „universalisiert“. Für Marxisten, schreibt Bauch, sei daher die heutige Situation verblüffend. „Wie ist es möglich, daß in einem Land, wo das Bürgertum herrscht, der Antifaschismus zur Staatsreligion ausgerufen wird? Die Choreographie von Sein und Bewußtsein scheint hier auf einmal nicht zu passen.“

Nun, das Paradox läßt sich auflösen. Die Bundesrepublik war keineswegs bloß ein „luxuriöser Schonraum“ vor den Zumutungen des Politischen, wie der Autor aus Cora Stephans Buch „Der Betroffenheitskult“ zitiert, sondern auch – ähnlich der DDR – ein komfortables Umerziehungslager. In beiden Teilstaaten mußten die Bürger damit fertig werden, daß der deutsche Staat besiegt, geteilt, in konträre Machtblöcke integriert und politisch handlungsunfähig war. Der Antifaschismus in seinen jeweiligen Ausprägungen eröffnete ihnen die Möglichkeit, das politisch Gegebene als das moralisch Wünschbare anzunehmen und zu ästhetisieren, was in der Bundesrepublik ungleich leichter war als in der DDR.

1989/90 erlitt der real existierende Sozialismus eine vernichtende Niederlage, was der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie viel von ihrer Überzeugungskraft nahm. Um so leichter kann seitdem der DDR- in den BRD-Antifaschismus integriert werden. Seine Protagonisten dürfen am ideologischen Überbau der Bundesrepublik mitwirken und dessen destruktive Energien verstärken. Beide Antifaschismus-Varianten bestätigen sich in ihrer universalistischen Stoßrichtung und im Ziel, den deutschen Nationalstaat abzuschaffen. Wir haben es mit einem nationalen Mythos der besonderen Art zu tun, mit einem Nationalmythos, der sich gegen die Nation selbst richtet.

Das Buch von Jost Bauch ist nicht nur informativ, klug und flüssig geschrieben, es regt auch an, das Thema fortzuschreiben.

Jost Bauch: Mythos und Entzauberung. Politische Mythen der Moderne. Gerhard Hess Verlag. Bad Schussenried 2014, broschiert, 186 Seiten, 16,80 Euro

Foto: Gruppenfoto eines Antifa-Terrorkommandos, Berlin 2014: Ein pervertierte Nationalmythos, der sich gegen die Nation selbst richtet

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