© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Zeitzeuge des Stalinismus
Nachruf auf den Historiker Wolfgang Leonhard
Detlef Kühn

Sein erstes Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ machte Wolfgang Leonhard in den 1950er Jahren schlagartig bekannt und begründete nachhaltig seinen Ruhm als Experte für die stalinistische Variante des Sowjetkommunismus. Die spannend geschriebene Autobiographie wurde ein Bestseller. Sie entfaltete im Kalten Krieg nach 1955 vor allem deshalb eine erhebliche Wirkung auch in linksintellektuellen, für kommunistisches Gedankengut empfänglichen Kreisen Westeuropas und der USA, weil es nicht aus der Opferperspektive oder gar von einem „eingefleischten“ (wie der Staatssicherheitsdienst der DDR zu sagen pflegte) Gegner des Kommunismus geschrieben worden war.

Vom Kommunisten zum Sozialdemokraten

Wolfgang Leonhard kannte viele Akteure der DDR, zum Beispiel Walter Ulbricht, den Stasi-General Markus Wolf, den er immer „Mischa“ nannte, oder Heinz Hoffmann, den späteren DDR-Minister für nationale Verteidigung, persönlich. Der Sohn der kommunistischen Schriftstellerin Susanne Leonhard (1895–1984) wurde von Kindesbeinen an kommunistisch erzogen. 1935 emigrierte seine Mutter mit ihm nach Moskau, wo sie bereits ein Jahr später eines der vielen Opfer der stalinistischen Repressionen wurde. Sie verschwand für die nächsten zwölf Jahre im Gulag (Workuta), bis sie endlich 1948 in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands ausreisen durfte.

Dorthin war ihr Sohn Wolfgang bereits Ende April 1945 als Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ zurückgekehrt. Er hatte zu dieser Zeit eine linientreue Erziehung in verschiedenen deutschen, schwedischen und vor allem sowjetischen Schulen, Kinderheimen und anderen Bildungseinrichtungen (Kominternschule) erhalten und als Rundfunksprecher für das Nationalkomitee Freies Deutschland gearbeitet. Als Lehrer an der SED-Parteischule wuchsen bei ihm jedoch die Zweifel an dem Kurs, der in der SBZ von Stalin durchgesetzt wurde.

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma sah er anfangs im Titoismus in Jugoslawien, wohin er 1949 flüchtete. Nachdem er 1950 in die Bundesrepublik gekommen war, entwickelte er sich im Laufe der Zeit zum Sozialdemokraten. Als Redner, Hochschullehrer und Publizist blieb der Zeitzeuge des Stalinismus stets gefragt, zumal er die Entwicklung in der Sowjetunion und der DDR weiterhin sorgfältig beobachtete. Vergangenen Sonntag ist Wolfgang Leonhard im Alter von 93 Jahren in der Eifel, wo er seit langem lebte, gestorben.

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