© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Wenn man sich im Verkehrsamt von Nizza einen Stadtplan besorgt, fällt der Blick auf die sorgfältige Kategorisierung der Einkaufsviertel: farblich markiert, absteigend von den Straßen, geeignet für shopping de luxe, bis zu denen mit gewöhnlichen Geschäften, in denen sich Normalsterbliche eindecken.

Die Erwähnung der 800.000 deutschen Ziviltoten durch die britische Seeblockade im Ersten Weltkrieg hat Jörg Friedrich den Vorwurf der „Aufrechnung“ eingetragen; immer ein Hinweis, daß man auf der richtigen Fährte ist.

Beaulieu-sur-Mer vermittelt heute noch einen Eindruck davon, welchen Zauber die Côte d’Azur in ihrer großen Zeit, am Ende des 19. Jahrhunderts, ausgestrahlt haben muß. Man geht durch gepflegte Straßen, entlang an den Häusern der Belle Epoque, vorbei an Parks mit Brunnen und großen Bronzefiguren. Der Verkehr ist mäßig, das Tempo verhalten, die Lautstärke gedämpft, jedenfalls am Rand der Saison. Und wenn man zum Meer kommt, erheben sich die imposanten Häuser derer, die es sich leisten konnten. Darunter auch die Villa Kérylos, die der steinreiche, aus einer Bankiersfamilie stammende Archäologe Théodore Reinach errichten ließ. Ein strahlend weißer Bau von atemberaubender Schönheit vor dem Blau des Himmels und dem Blau des Meers. Innen wie außen eine Mischung sorgfältiger Rekonstruktion eines idealen Baus der griechischen Antike mit den Erfordernissen modernen Komforts, das heißt man hat die technischen Apparaturen oder das anachronistische Klavier sorgfältig hinter Kulissen des Altertums verborgen. Aber das stört den Eindruck nicht, vielmehr wünscht man – spätestens wenn man die Bibliothek des Hausherrn betritt –, hier zu wohnen, oder, je nach Geschmack, ein mildes Frühjahr oder einen Sommer zu verbringen.

Die permanente Veränderung von Betriebssystemen und sonstigen Computerprogrammen ist auch konservativ zu nehmen: Wer aus der Kontinuität der Überlieferung aussteigt, ist verloren.

Einen „primeur“, einen Gemüsehändler, der die ersten und feinen Sorten anbietet, findet man heute selbst in den kleineren französischen Orten nur noch selten, die Supermärkte haben das Geschäft übernommen. Aber hier war noch einer, malerisch in einem Winkel der provencalischen Stadt. Man kommt in den Laden und sieht sich um, die junge Besitzerin erscheint und fragt freundlich nach den Wünschen, erst da fällt der Blick des Kunden auf die langen Rastalocken und den konsequenten Anstrich in Grün, Gelb und Rot und die Bilder der schwarzen Erlöser: Haile Selassie, Bob Marley, Nelson Mandela und – Barack Obama.

Wer hinter Nizza die schmale Straße in Richtung auf die Ligurischen Alpen nimmt und im Tal der La Roya auf Tende zufährt, passiert in den Orten regelmäßig Denkmäler für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Oft handelt es sich um plastische Darstellungen von Soldaten in Lebensgröße. Die tragen irritierenderweise die Uniform der Alpini, der italienischen Gebirgstruppen, und tatsächlich wird so der Kriegstoten dieser Gegend gedacht, die oft an der Ostfront umgekommen sind. Bis 1945 gehörte das Gebiet noch zu Italien, dann nahm Frankreich den schmalen Streifen und arrondierte, was ihm bei der Angliederung der Region Nizza Jahrzehnte zuvor entgangen war. Die Einwohner sind es offenbar zufrieden: „Dann haben wir doch mitgewonnen“, meint einer im Gespräch und lacht, etwas unsicher, bevor er hinzufügt, „aber der Name meines Großvaters steht auch auf dem Sockel.“

Bildungsbericht in loser Folge LXII: Das Land Schleswig-Holstein möchte in den Grundschulen alle Noten abschaffen und durch „Kompetenzraster“ ersetzen. Aber grundsätzlich soll jede Schule selbst entscheiden dürfen, ob sie dem folgt oder nicht, was prompt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf den Plan gerufen hat, die gegen die fehlende Einheitlichkeit protestiert. Was ist dem zu entnehmen? 1. Die Linken im Kultusministerium sind sich ihrer Sache nicht mehr sicher und fürchten den gesunden Menschenverstand der Elternschaft. 2. Die Linken in der GEW sind sich ihrer Sache sicher und fordern, was Linke in solchen Fällen immer fordern: Zwangsbeglückung.

Der Charme von Saint-Tropez wirkt etwas angejahrt, die großen Zeiten sind vorbei, aber die Anziehungskraft ist ungebrochen, die Villen- und Restaurantdichte hoch, die Immobilienpreise exorbitant. Wenn man von der Gegenküste einen Blick auf das Dorf wirft, versteht man den Reiz, und erst recht, wenn man am Kai des kleinen Hafens steht. Aber was bleibt davon, wenn der Lärm im Mai beginnt und sich die Blechlawinen über die schmale Zufahrtsstraße quälen und die Einwohnerschaft verzehnfacht wird?

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 5. September in der JF-Ausgabe 37/14.

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