© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Pankraz,
Peter Stein und der Sound von morgen

Die etablierte Kritik wütet wieder einmal unisono gegen Peter Stein (76), den Regisseur und legendären ehemaligen Leiter der Berliner Schaubühne. Der hat heuer für die Salzburger Festspiele Schuberts Oper „Fierrabras“ inszeniert, und er tat es offenbar (Pankraz hat die Aufführung leider nicht gesehen) in der bei ihm gewohnten gediegenen Weise, also ohne regieliche Mätzchen und „Aktualisierungen“, scharf den Geist der Epoche herausarbeitend, in der das Werk entstand, seinen Autoren nicht die geringste Gewalt antuend.

Gerade das aber erregte die Wut der Kritiker, die sich schier

überschlugen in ihren Verdammungssprüchen. Von einer „konsequenten Verweigerung jeder Regieanstrengung“ ist zu lesen; Stein habe zum Beispiel an keiner einzigen Stelle „auf Franz Schuberts traurige Lebenswirklichkeit im Wien der Metternich-Zeit“ hingewiesen. Er sei „der altmodischste Regisseur des 21. Jahrhunderts“, er versuche sich nur noch „an biederem Nachbuchstabieren“, habe „jegliches Gespür für Dramatik und Personenführung verlernt“. Solche Sätze sind noch das Maßvollste, was man zur Zeit in Sachen Stein zu hören bekommt.

Ungeniert wird immer wieder auf das vorgerückte Lebensalter des Mannes angespielt und daß er auf seine alten Tage „die Ideale und Talente seiner revolutionären Jugend verraten“ habe. Er solle doch endlich in Rente gehen. Besonders erregte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Ungefragt, unerwartet“ so hieß es dort, „werden wir zu Zeugen einer traurigen Selbstdemontage. Peter Stein war mal ein echter Drache (…) Geblieben ist von ihm nur noch die Asche der Arroganz.“ Von einem weiteren Kritiker dann das definitive Donnerwort: „Peter Stein verkörpert nichts weiter als den Sound von vorgestern.“

Extra bemerkenswert der Eifer, mit dem man dem Regisseur seine angebliche Ungeeignetheit für das Inszenieren von Musikstücken vorzurechnen sucht. „Die Ouvertüre“, tobte einer, „wird in Salzburg bei geschlossenem Vorhang gespielt! Es gibt nichts zu sehen, kein stummes Spiel, keine Aktion. Das Publikum wird ausschließlich der Musik überlassen!“ Ein anderer monierte voller Ingrimm: „Bei Stein bewegen sich die Sänger kaum noch. Sie scheuen sich nicht, an der Rampe zu singen. Die Chöre bleiben ebenfalls statisch, sollen nicht durch Motorik von der Musik ablenken.“

Fast möchte Pankraz lachen. Natürlich, im modernen Regietheater spielt die Musik nur eine Nebenrolle. Chöre und Solosänger werden über die Bühne gejagt wie ein Pulk Ratten, müssen derart wild umherhüpfen und gestikulieren, daß man sich fragt, wie sie dabei noch zum Singen kommen. Pankraz wundert sich schon lange über das Ausmaß dessen, was sich Sänger und Dirigenten heutzutage vom Regisseur alles gefallen lassen. Der Umstand, daß Peter Stein seinerseits den Sängern und seinem Dirigenten Ingo Metzmacher offenbar die Vorfahrt überließ, spricht sehr für ihn als Opernregisseur.

Schon Schopenhauer wußte: Die Musik ist im Vergleich zur Sprache das höhere Erkenntnismedium. Und das gilt selbstredend besonders für die historische Oper, wo die Librettisten ja oft ausgesprochene Hallodris waren, die ihren Text ganz nach Gusto und Pöbelgeschmack zusammenzimmerten, ohne Rücksicht auf Logik und sonstige Qualitäten. Beileibe nicht jeder von ihnen war ein zweiter Richard Wagner oder Hugo von Hofmannsthal; auch Schuberts Librettist Joseph Kupelwieser gehörte eher der Gattung Hallodri an, und Stein hat das in seiner Inszenierung deutlich markiert und zu Bewußtsein gebracht.

Leicht wäre es für ihn gewesen, Kupelwiesers Libretto in der üblichen Weise aufzumotzen und der aktuellen Nachrichten- und Kommentarlage anzupassen. Denn dieser Text ist eine literarisch völlig unbedeutende, „romantisch“ daherkommende Klamotte über die Zeit Karls des Großen, wo die Abendländer in Spanien gegen die Araber kämpfen, die jeweiligen Helden sich aber, statt zu kämpfen, permanent in die Frauen der Gegenseite verlieben, was zu erschröcklichen Verwirrungen führt. Was für eine Chance, hier neudichtend einzugreifen und aus dem ganzen eine ARD-Tagesschau August 2014 zu machen!

Indes, nicht einmal diese Chance hat der Regisseur Stein ergriffen. „Die politischen Dimensionen des Konflikts zwischen Mauren und Christen interessieren Herrn Stein einfach nicht“, wundert sich die Kritikerin der Berliner taz. Das stimmt wohl, aber warum sollte er denn? Theaterregisseure sind keine Nachrichtensprecher, sollten wenigstens keine sein. Es geht ihnen nicht darum, daß das Publikum in ihren Inszenierungen dauernd vor irgendwelchen Tagesneuigkeiten den Hut zieht wie vor alten Bekannten; ihre Kunst reicht weit über den Tag hinaus, wie gesagt: sollte es wenigstens.

Gute Theater- und Opernregisseure, die ihr Lob verdienen, sind keine Besserwisser oder Oberlehrer, welche die Texte der von ihnen in Szene gesetzten Autoren „erklären“ und ihnen einen zweiten, ihren eigenen Text, einen Übertext, vor die Nase stellen, sondern ihr Ingenium erfüllt sich darin, daß sie den Text des Autors in vollster Klarheit und Authentizität wahrhaft erscheinen lassen inklusive der Zeit- und Lebensumstände, unter denen er entstanden ist. Die Generaldevise der Arbeit von Regisseuren lautet nicht „Aktualisierung“, sondern „Historisierung“ im anspruchsvollsten, vielseitigsten Sinne des Wortes.

Allein Regisseure, die sich dieser Art von Historisierung verschrieben haben (Peter Stein gehört dazu), sorgen auch für die Musik, die jedes große Theater durchtönt, solange es noch großes Theater gibt. Ihr „Sound“ ist nicht der von vorgestern, sondern der von morgen und übermorgen. Was hingegen den „Sound von heute“ betrifft, jene Quietschtöne des gegenwärtigen Regietheaters, so gleicht er, um mit Friedrich Schiller zu sprechen (siehe seinen Essay „Über das gegenwärtige deutsche Theater“) „den Befleckungen eines blöden und schmutzigen Haufens“, die jeder Theaterdirektor tunlichst ignorieren sollte.

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