© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Der Flaneur
Wohlgenährt am Badesee
Andreas Harlaß

Sie ist etwa zehn, höchstens zwölf Jahre und steht in der Warteschlange am Imbiß im Stauseebad. Ein klarer See bei Dresden, mit Liegewiesen, alten Bäumen. Vattenfall pumpt das Wasser immer wieder vom oberen Stausee vom Elbhang zurück. Es ist herrlich kühl, viele Fische: Karpfen, Barsche, Rotfedern. Eine schöne Anlage.

Das Mädchen am Imbiß ist deutlich adipös. So nennen Ärzte dicke Menschen. Als sie dran ist, bestellt sie: „Eine große Portion Pommes mit Majo und Ketchup. Und ein Magnum-Eis, bitte.“ Sie trägt einen weißen Bikini. Die Schenkel gleichen denen einer Vierzigjährigen. Der Bauch ist quasi eine Fettschürze. Wohlgemerkt: ein Kind. Meine Freundin konnte das wegen eines Sonnenschirms nicht sofort erkennen, sagt: „Die ist schwanger.“

Zu Hause greife ich das Fotoalbum meiner inzwischen verstorbenen Eltern: alle schlank.

Fassungslos registriere ich, daß eine Frau dahinter – ihre Mutter, ebenfalls adipös – die Börse zückt und die geschätzte 1.000-Kilokalorien-Bestellung kommentarlos begleicht. Keine Ermahnung. Ein Blick in die Runde der Badbesucher: Junge Frauen, Männer, Kinder. Geschätzt 70 Prozent haben Dellen in Schenkeln und Po, schleppen Wampen vor sich her, watscheln unelegant über Liegewiesen.

Zu Hause greife ich das Fotoalbum meiner inzwischen verstorbenen Eltern. Beide wurden 1923 geboren. Eltern, Großeltern – alle schlank. Nicht nur in Vorkriegs- oder Kriegszeiten, wo viel essen noch etwas Luxuriöses hatte. Auch in der DDR und nach der Wende: Keiner hat annähernd so eine Figur. Heute gilt: Fett, na und?

Das Mädchen trollt sich auf seine Decke, schaufelt die Riesenportion Pommes frites in den Mund. Anschließend zerrt sie das Eis aus der Folie und verschlingt es. Gleich nebenan ist das Volleyballfeld. Dünn besiedelt. Vier Jungs spielen. Es sieht etwas ungelenk aus, wie sie den Ball immer wieder ins Netz pfeffern. Sie brüllen sich bei Fehlern zornig an. Aber: Alle schlank. Das Mädchen glotzt von seiner Decke in ihre Richtung. Seine Mutter ist eingenickt.

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