© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Heimatkunde 2.0
Modern, interaktiv, vielfältig und wahnsinnig spannend: das faszinierende Foto-Museum toter Orte „Vimudeap“
Bernd Rademacher

Dichter Wald, Gestrüpp, Brombeeren – und plötzlich bemooste Fundamente, rostige Träger und verschüttete Stolleneingänge. Was mag hier mal gewesen sein? Welche Geschichte hat dieser verwunschene Ort? Überall in Deutschland schlafen stumme Zeitzeugen aus Beton und Stahl, verfallen, bewuchert, versunken. Weckt man sie auf, erzählen sie Kapitel vergangener Konjunkturen und Konflikte. Verschiedene Initiativen lüften die Geheimnisse von Ruinen und fördern dabei Geschichten zutage, die spannender sind als jede Fernsehdokumentation. Das Forschungsabenteuer wartet vor der Haustür.

Kommunikationsdesigner Thomas Kemnitz von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin ist seit 1996 Museumsleiter. Er führt ein Internet-Museum für geographische Stätten: das „Virtual Museum of dead places“, das virtuelle Museum toter Orte, kurz „Vimudeap“. Er erklärt, daß Orte und Architektur die Triebkraft menschlicher Entwicklung widerspiegeln. Der Wechsel zwischen Nutzung und Verwilderung ist für ihn Abbild der Dynamik menschlicher Veränderungsprozesse. Die Bauten der letzten 200 Jahre zeigen die Geschichte von Industrialisierung und Deindustrialisierung, Krieg und Frieden, Besiedlung und Rückzug. Spannend sei für Kemnitz, daß der dokumentierte Zustand des Verfalls immer noch eine Option biete zwischen erneuter Nutzung oder endgültigem Verschwinden. Das Projekt sei kein „Friedhof“, sondern halte ein Zwischenstadium fest. Den Inhalt des Online-Bildarchivs sammeln die Nutzer – geniale High-End-Fotografien sind zusammengekommen. Jeder kann einen „toten Ort“ vorschlagen, Bilder und Texte einstellen. Die registrierten Anwender ergänzen weitere Informationen.

Autobahnen, Sportstätten, Industrieanlagen, Militär

Ein toter Ort ist beispielsweise das Stollensystem „Malachit“ in den Thekenbergen bei Halberstadt. Hier fertigten KZ-Häftlinge Flugzeugteile. Die DDR baute die unterirdische Anlage zum „Komplexlager 22“ der NVA aus. Ein weiteres Beispiel ist der Masurische Kanal, der die Masurischen Seen in Ostpreußen mit Königsberg verbinden sollte. An den 50 Kilometern wurde ab 1911 gearbeitet. 1942 waren 90 Prozent fertig. Der Kanal war schon geflutet, als die Wehrmacht auf dem Rückzug 1944 alle Brücken und Schleusentore sprengte. Seitdem träumen die Trümmer vor sich hin. Auch etliche militärische Objekte aus der Zeit des Kalten Krieges sind heute nur noch als rätselhafte Relikte in der Geographie erkennbar.

Kemnitz kooperiert mit regionalen Initiativen wie dem „Berliner Unterwelten e.V.“, der seit 1997 unterirdische Bauten in und um Berlin dokumentiert – blinde Tunnel, vergessene Gewölbe, geheimnisvolle Bunker. Im Münsterland erforscht die Projektgruppe „X-Orte“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Spuren jüngerer Geschichte in der Landschaft. Die mit einem plastischen Holzkreuz (X) wie auf einer realen Schatzkarte markierten Plätze erzählen von aufgegebenem Mineralienabbau, Raketenrampen des Weltkriegs sowie längst überwachsenen Atomwaffenlagern des Ost-West-Konfliktes.

Erst im Juli 2014 hat Kemnitz seinen gesamten Datenbestand neu strukturiert und an ein Tablet-kompatibles System angepaßt, so daß Vimudeap ab jetzt in einer neuen Version zu erleben ist – sogar in mehreren Sprachen. Wer die untergegangenen Welten nicht am Rechner anschauen will, kann sich auf der Netzseite vimudeap.info auch DVDs bestellen, die mit zahlreichen Extras ausgestattet sind.

Wer zu den abgebildeten Objekten eigene Bilder oder Informationen beisteuern kann, ist aufgefordert, sich aktiv zu beteiligen. Oder noch viel besser natürlich, so wie die lokalen Projekte, einfach sein eigenes Online-Regionalmuseum zu eröffnen. Das ist interaktive Heimatkunde der neuen Generation.

http://vimudeap.info/de

https://de-de.facebook.com/vimudeap

http://berliner-unterwelten.de

https://www.wwu.de

Foto: Bildgewaltig und länderübergreifend: Bunker der ehemaligen Richtfunkstelle Magdeburg aus DDR-Zeiten (links oben); Innenraum des kommunistischen Buzludzha-Monuments, Bulgarien (links unten); Veränderungen der KZ-Gedenkstätte Langenstein/Zwiebergen bei Halberstadt (obere Reihe); Schaltraum im stillgelegten Krupp Kraftwerk Essen (untere Reihe links); denkmalgeschützter Mahlturm der nicht mehr betriebenen Moguntia Gewürzmühle Mainz (untere Reihe rechts)

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