© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Hinterhältige und Hinterhältiges
Belgische Franktireurs 1914: Welches Ausmaß hatten die tatsächlichen oder angeblichen deutschen Kriegsgreuel im Sommer 1914
Karlheinz Weissmann

Am 8. August 1914 brachte die flämische Tageszeitung De Nieuwe Gazet einen Artikel unter der Überschrift: „Die Bürgerschaft schießt mit auf den Eindringling“; darin hieß es: „In Bernot kamen die [deutschen] Vorposten mit den Bürgern ins Gefecht, die aus den Häusern heraus, von den Dächern herunter und durch die Fenster wie Rasende auf die Eindringlinge schossen. Sogar Frauen schossen mit. Ein 18jähriges Mädchen schoß mit einem Revolver auf einen Offizier. (…) Die Bauern und die Einwohner unterhielten ein geregeltes Feuer auf die anstürmenden Deutschen.“

Der Text stand nicht allein da. In der ersten Phase des deutschen Einmarschs erschien eine relativ große Zahl von Veröffentlichungen, in denen die belgische Presse derartige Aktionen feierte, insbesondere dann, wenn Frauen und Jugendliche – vor allem Pfadfinder – beteiligt waren. Man sah in dieser Art „Volkswiderstand“ einen Ausdruck des Patriotismus, notwendig angesichts der Invasion der „Barbaren“, gleichberechtigt neben den Taten der Armee und der Garde civique, der „aktiven“ wie der „passiven“ Bürgergarde, einer Art Miliz, die eigentlich für den Fall von Unruhen aufgestellt worden war und deren Männer die deutschen Truppen oft wegen fehlender Uniformierung für Zivilisten hielten.

Etwa 3.000 belgische Zivilisten wurden getötet

Die Belgier betrachteten sich als unschuldige Opfer eines Überfalls, aber man darf auch die Bedeutung der profranzösischen Stimmung im Land nicht unterschätzen. Seit der Jahrhundertwende war die offizielle Neutralität durch die Annäherung zwischen Brüssel und Paris aufgeweicht, in der Wallonie gab es schon während der Julikrise Manifestationen zugunsten der Entente. Aus Frankreich finanzierte Einflußgruppen (etwa der Congrès international pour l‘extension et la culture de la langue française) machten Stimmung gegen Deutschland, und an die Grenze abgehende belgische Truppen skandierten „Vive la France!“.

Darüber hinaus scheint die Überzeugung verbreitet gewesen zu sein, daß Belgien einen deutschen Angriff werde abweisen können, und in entsprechend sarkastischem Ton brachte das Journal de Bruxelles am 14. August 1914 den Appell: „Die Jagd auf die Tiere mit Helmen ist eröffnet. (…) Die Jagdscheine sind gratis.“

Die je nach Standpunkt naive oder verantwortungslose Propaganda für einen belgischen Volkskrieg, bei dem sich der einfache Mann unter Führung von Reserveunteroffizieren mit Jagdgewehren, ausgedienten Trommelrevolvern, aber auch mit Sensen, Messern und Knüppeln bewaffnete und aus der Deckung die Eindringlinge attackierte, hatte in der Anfangsphase des Krieges eine solche Zahl von Zwischenfällen zur Folge, daß die deutsche Seite zu Repressalien überging. Es kam aber auch zu Ausschreitungen und Massenerschießungen, denen vollkommen unbeteiligte belgische Zivilisten zum Opfer fielen.

Üblicherweise wird das mit einer „Franktireur-Psychose“ erklärt. Der französische Begriff „franc-tireur“ bezeichnet einen „Freischützen“, das heißt also den Angehörigen eines Freikorps. Er wurde während des Krieges von 1870/71 verwendet, um irreguläre Verbände zu bezeichnen, die die bisher noch nicht militärisch Erfaßten mobilisieren sollten. Der tatsächliche Nutzen war wie immer in solchen Fällen zweifelhaft, aber die Figur des franc-tireur spielte in der französischen Bewältigungsliteratur, mit der man die Niederlage zu verarbeiten suchte, eine wichtige Rolle als Heldengestalt. Umgekehrt führten die deutschen Erfahrungen mit dieser Art von Guerilla dazu, daß allein die Nennung des Wortes bei Verantwortlichen wie einfachen Soldaten die Angst hervorrief, dauernd von einem unsichtbaren und hinterhältigen Gegner umgeben zu sein, der keine Gnade gewährte und deshalb auch keine Gnade verdiente.

Alliierte Propaganda über abgehackte Kinderhände

Daß diese Angst nach den ersten Erfahrungen auf dem belgischen Kriegsschauplatz im August 1914 wiederbelebt wurde, liegt auf der Hand. Von einer Psychose im Sinn einer Wahnvorstellung kann allerdings keine Rede sein. Zwar war die Drohung, das belgische Volk werde „gegen die Deutschen einen Krieg bis aufs Messer unternehmen (…), wie jener, den die Spanier von 1809 gegen die Armeen Napoleons führten“ (La Chronique, Brüssel, am 19. August 1914), haltlos, aber die Zahl der Vorkommnisse groß und schwerwiegend genug, um die deutsche Seite zu überzeugen, daß es legitim sei, beim kleinsten Anlaß von der Waffe Gebrauch zu machen, Geiseln zu nehmen und Exekutionen zur Bestrafung oder Abschreckung durchzuführen. Grundsätzlich glaubte man dabei in Übereinstimmung mit der Haager Landkriegsordnung zu handeln.

Allerdings geht aus den Akten auch hervor, daß bei Vorgängen wie den Massakern von Dinant oder Löwen sehr früh Verantwortliche darauf hinwiesen, daß Überanstrengung, Panik und Disziplinlosigkeit den Ausschlag für ein Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung gaben, das nicht zu rechtfertigen war.

Die Mehrzahl der etwa 3.000 Ziviltoten bei der Besetzung Belgiens dürfte auf derartige Ausschreitungen zurückzuführen sein. Die Vorstellung, daß es sich um Opfer einer spezifisch deutschen „Gewaltkultur“ handelte, geht jedenfalls in die Irre. Entsprechende Deutungen, wie sie zuletzt mit erheblicher Wirkung John Horne und Alan Kramer vertraten, schreiben im Grunde nur jene Interpretationen fort, die die Entente schon während des Ersten Weltkriegs in Umlauf brachte.

Ausgeblendet wird dabei nicht nur der radikale Kurswechsel in der belgischen wie der französischen und britischen Presse, nachdem sich herausgestellt hatte, welche Konsequenzen die Freischärlerangriffe hatten: Seit dem September 1914 gab es keine weiteren Berichte zum Thema, stattdessen wurde den Deutschen vorgeworfen, die Figur des franc-tireur einfach erfunden zu haben.

Ausgeblendet wird auch, daß es in den neutralen Staaten von Anfang an Stimmen gab, die darauf hinwiesen, daß die Ausschreitungen auf die Phase des Einmarschs beschränkt waren und die den Deutschen angedichteten Greuel – abgehackte Kinderhände, gekreuzigte Gegner, massenhaft erschossene Priester, vergewaltigte und verstümmelte Frauen – die Glaubwürdigkeit auch all jener Berichte in Frage stellten, in denen von grundlosen Repressalien die Rede war.

Ganz entscheidend wirkte in dem Zusammenhang der Hinweis, daß die deutschen Methoden der Kriegführung sich selbst im schlimmsten Fall nicht von denen der deutschen Gegner unterschieden. Das sowieso in bezug auf die Kolonialkriege (etwa die Maßnahmen der Belgier im Kongo, der Franzosen in Marokko und Algerien, der Briten in Indien oder Afghanistan), aber auch in bezug auf das Vorgehen Rußlands bei der Besetzung Ostpreußens (circa 1.600 Ziviltote in weniger als vier Wochen, 10.000 Verschleppte) und die Mittel, derer sich Großbritannien während der Burenkriege (etwa 40.000 Tote in den Konzentrationslagern) bedient hatte und bei der Niederschlagung des Osteraufstands in Irland kurz darauf bedienen würde (1.000 Tote, 3.000 Internierte).

Haben diese Fakten in Deutschland während der Zwischenkriegszeit noch eine große Rolle gespielt und der Verteidigung gegen den Vorwurf von „Kriegsverbrechen“ gedient, sind sie nach 1945 ganz in den Hintergrund getreten, vergessen oder verdrängt worden. Dafür gab es verschiedene Gründe, aber der wichtigste dürfte gewesen sein, daß sich die Vorstellung festsetzte, man habe den Ersten Weltkrieg als Vorlauf für den Zweiten zu betrachten und könne angesichts der Untaten im deutschen Namen keinen Widerspruch gegen ältere Vorwürfe von alliierter Seite erheben.

Ein entscheidender Schritt in diese Richtung war schon die gemeinsame Erklärung westdeutscher und belgischer Historiker von 1958, die zu dem Ergebnis kam, daß die belgische Sicht der Dinge im wesentlichen die richtige sei. Damals gab es allerdings noch genügend Selbstbehauptungswillen auf deutscher Seite, daß der Spiegel von einem „Kunststück kleineuropäischer Geschichtsschreibung“ schrieb, dem es gelang, ein neues Bild der Vergangenheit zu zeichnen, für dessen Kontur es weniger um Fakten, mehr um den aktuellen politischen Nutzen gehe.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Autor des aktuellen Buches „1914. Die Erfindung des häßlichen Deutschen“ (JF-Edition, Berlin 2014, gebunden, 204 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro)

Fotos: Deutsche Infanterie erobert Antwerpen am 9. Oktober 1914: Einem „Volkswiderstand“ begegnet; Belgische Armee im Abwehrkampf: Frauen und jugendliche Pfadfinder schossen mit Jagdgewehren

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