© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Grüße aus San Francisco
Gefährliches Frösteln
Elliot Neaman

Ich habe mich längst an den Anblick von Touristen auf der Golden Gate Bridge gewöhnt, die in ihren dünnen Sommersachen frösteln. Die Täler im Landesinnern heizen sich im Sommer oft auf 40 Grad und mehr auf. Wenn diese heißen Luftmassen dann auf den Pazifik treffen, wird die kalte Meeresluft in die Bucht von San Francisco gesaugt, wo sie kalten Nebel und Nieselregen verursacht. Je heißer es im Landesinnern wird, desto kälter ist es hier. An solchen Tagen wird immer wieder gerne Mark Twain zitiert, der angeblich gesagt haben soll: „Der kälteste Winter, den ich je erlebt habe, war ein Sommer in San Francisco.“

Frösteln lösen auch die Lebensmüden aus, die sich so oft von der Golden Gate Bridge stürzen wie von keinem anderen Bauwerk der Welt – nur die Nanjing Yangtze River Bridge in China ist bei Selbstmördern noch beliebter.

Fußgänger können nur die der Bucht zugewandte Seite der Golden Gate begehen – cirka 75 Meter über dem eiskalten tosenden Wasser. Wer von dort aus springt, schlägt mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h auf die Wasseroberfläche auf. Die meisten sterben entweder sofort oder ertrinken.

Ein Stahlnetz soll das Todesimage einer der schönsten Brücken der Welt verbessern.

Als die Zahl der Selbstmorde 1995 die Tausender-Marke erreichte, wurde die Veröffentlichung der Statistik eingestellt. Dennoch verzeichnete 2013 mit 46 Suiziden einen traurigen Rekord – 118 Versuche konnten verhindert werden. Ende Juni wurden daraufhin Mittel in Höhe von 20 Millionen Dollar für den Bau eines Stahlsicherheitsnetzes bewilligt, die Fertigstellung ist für 2016 vorgesehen.

Freilich stoßen diese Pläne nicht nur auf Zustimmung. Denkmalschützer sorgen sich um die Ästhetik, während Gesundheitsexperten verlangen, das Geld zu verwenden, um selbstmordgefährdeten Menschen zu helfen.

Die Debatte um die Selbstmordbarriere hat eine Debatte über die Frage ausgelöst, was Menschen überhaupt in den Selbstmord treibt. Wissenschaftler versuchten kürzlich einen Zusammenhang zwischen der Selbstmordquote und den Fluktuationen der Finanzmärkte herzustellen. Auch wenn diese Kausalität sicherlich zu kurz gegriffen ist, bestätigt sie doch den Verdacht, daß so gut wie jeder Selbstmord in einem gesellschaftlichen Kontext steht. Schließlich ist ein spektakulärer Todessprung von einer der schönsten Brücken der Welt eine Botschaft. Was genau der oder die Betroffene damit sagen will, bleibt jedoch in den meisten Fällen hinter den Nebelschwaden der Stadt verborgen.

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