© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Deutungskämpfe um die Weisheit Spinozas
Rechtswissenschaftliche Rezeption des jüdischen Denkers
Dirk Glaser

Es genügt, der Rezeptionsgeschichte nur eines einzigen Denkers, Dichters, Wissenschaftlers nachzuspüren, um den Wandel des Zeitgeistes präzise zu erfassen und abzubilden. Wählt man, wie der emeritierte Hannoveraner Politologe Manfred Walther, eine extrem polarisierende Gestalt wie den jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), kann dies den Ertrag an Einsichten in frühere Versuche zur Weltorientierung nur erhöhen.

Im engen Rahmen seines Themas „Spinoza in der Rechts- und Staatslehre der Weimarer Republik – eine vergessene Tradition“ (Der Staat, 4/2013) muß Walther sich ideenhistorisch zügeln und 200 Jahre Spinoza-Rezeption bis zu den Anfängen einer positiven Beschäftigung mit dem als Atheisten und Demokraten lange aus der Reihe der Klassiker der modernen Staatstheorie ausgegrenzten Verfasser des „Tractatus theologicopoliticus“ (1670) im Galopp durcheilen.

Nach 1848 gehörten an der Universität Heidelberg, neben dem Philosophen Kuno Fischer, heute vergessene Juristen wie Robert von Mohl und der Schweizer Johann Caspar Bluntschli, ungeachtet des während der Zeit der Reaktion neu gefestigten Bündnisses zwischen Thron und Altar, zu den ersten, die Spinoza unbeeindruckt von der herrschenden „theologischen Weltanschauung“ ihrer Zeit würdigten. Der in Heidelberg lehrende, dem Wiener Judentum entstammende Georg Jellinek (1851–1911), Verfechter der berühmt gewordenen These vom Ursprung der Menschen- und Bürgerrechte in Englands nord-amerikanischen Kolonien, wählt dann Spinozas Machttheorie als positiven Bezugspunkt in seiner liberalen „Allgemeinen Staatslehre“ (1900), an die Juristen nach 1918 anknüpften.

Die plötzliche Aktualität des politischen Theoretikers und Staatsphilosophen Spinoza verdankt sich für Walther jedoch nicht dem Rückgriff auf diese bescheidene Tradition. Vielmehr sei es eine Art Wahlverwandtschaft gewesen, die sich nach dem deutschen Systemwechsel von 1918 ergeben habe: zwischen Spinozas Auffassungen über die Stabilitätsbedingungen staatlicher Ordnung, die von demokratischen Präferenzen geprägt waren, und den Problemen, die einer überwiegend monarchistischen Staatslehre aus ihrem neuen „Gegenstand“, der demokratischen Weimarer Republik, erwuchsen. Anstelle des religiös legitimierten Obrigkeitsstaates, der den westlichen Demokratien in der Machtprobe nach 1914 unterlegen war, trat die Demokratie, die mindestens von der Akzeptanz ihrer Bürger abhing.

Damit sei Spinozas „Grundeinsicht“ zum Zuge gekommen, daß das Recht der Staatsmacht sich stets gründe auf die Zustimmung der Machtunterworfenen. Der Bürger ist somit dem Staat niemals vollständig unterworfen. Bürgerfreiheit und stabile Staatlichkeit bedingten einander.

Diese „Weisheit Spinozas“ versteht Walther als „Erkennungszeichen“ für die „genuin demokratisch gesinnten“ Rechtswissenschaftler Weimars. Er kann aber weder verhehlen, daß ihr nur eine Minderheit zustimmte, noch vermag er die Kritik Carl Schmitts zu parieren, der zufolge die vom Bürgerwillen abhängige Staatsmacht von Instabilität bedroht ist. Nicht das Individuum, sondern die als substantielle Einheit gedachte Nation, als eine Art „Urgrund alles politischen Geschehens“, war für Schmitt das festere Staatsfundament. Eine mit öffentlich und privat, mit innerlich und äußerlich operierende Theorie schaffe hingegen mit der Grundlage des modernen Rechts- und Verfassungsstaates zugleich die „große Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ (Schmitt, 1938), um den Staat zu zersetzen.

Wichtige Zustimmung der Machtunterworfenen

Solcher Präsenz Spinozas schien der NS-Staat ein Ende gemacht zu haben. Walther kann jedoch zeigen, daß dessen Weisheit auch nach 1933 nicht vollständig zu unterdrücken war. Dafür zitiert er einen für das Selbstverständnis des bürgerlichen Widerstands gegen Adolf Hitlers Regime kaum zu überschätzenden Text. Es ist das politische Bekenntnis des Juristen Helmuth James Graf von Moltke aus dem Sommer 1940, enthalten in einem Brief an Peter Graf Yorck von Wartenburg (den Walther in „York von Wartenberg“ umtauft): „Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein.“

Wie dieser Schlußsatz sind alle staatstheoretischen Einlassungen des Briefes ein beinahe wörtliches Zitat. Und zwar aus dem 20. Kapitel von Spinozas „Tractatus“. In der umfangreichen Forschung zum „20. Juli 1944“ sei aber das Moltke-Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat nie als Spinoza-Zitat identifiziert worden. Für Walther ist das kein Zufall. Denn in der Rechtswissenschaft der Bonner Demokratie habe sich, wie nach der Verfemung bis 1945 zu erwarten gewesen wäre, die Spinoza-Rezeption keineswegs vitalisiert.

Anders als noch 1927 und 1932 finde sich zu den Spinoza-Jubiläen 1977 und 1982 in juristischen Zeitschriften kein Gedenkartikel. Vielmehr sei Spinoza sogar vereinzelt, Carl Schmitts Kritik als Reaktion auf „1968“ wiederholend, als Vordenker des „bindungslosen Liberalismus“ und der „atheistischen Selbstverwirklichung“ (Wolfgang Fikentscher) denunziert worden. „Von diesen Unwerturteilen scheint sich die deutsche Rechtswissenschaft erst in der ‘Berliner Demokratie’ langsam zu verabschieden.“

www.duncker-humblot.de

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