© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Auf den Spuren Atatürks
Türkei: Bei der ersten direkten Wahl des Staatspräsidenten durch das Volk setzt Erdoğan auf Sieg, verdrängt dabei aber zugleich Unwägbarkeiten
Günther Deschner

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte es sich einfacher vorgestellt. Nach dem Vorbild von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew in Rußland sollte ein einfacher Äm-tertausch mit dem noch amtierenden Staatspräsidenten Abdullah Gül seine Macht zementieren. Doch der langjährige AKP-Parteifreund machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der offenkundig zur bloßen Schachfigur Erdoğans herabgewürdigte Gül verweigerte sich dem Wunsch, Erdoğan den bloßen „Protokoll-Premier“ zu spielen. „Der türkischen Demokratie tut das nicht gut“, erklärte dieser. Am 10. August wählen die Türken nun erstmals ihr Staatsoberhaupt direkt.

Trotz seines ungeschickten Vorgehens bei den Gezi-Protesten des vergangenen Jahres, trotz Kritik an seinem monarchischen Regierungsstil und den Korruptionsvorwürfen steht eines fest: Beim Großteil der Bevölkerung bleibt Erdoğan beliebt. Gilt er doch seit fast elf Regierungsjahren als Garant des wirtschaftlichen Aufschwungs der Türkei. Schon bei den Kommunalwahlen Ende März, die er zu einem Referendum über sich erklärt hatte, gewann seine Partei AKP deutlich (JF 15/14).

Folglich zeigt sich der 60jährige siegessicher. Vor allem rückt ein Traum näher, von dem Erdoğan schon oft sprach: Er will auch im Jahr 2023, wenn die Türkische Republik ihren hundertsten Geburtstag feiert, die Zügel der Macht in den Händen halten und das Land unter die zehn stärksten Wirtschaftsnationen der Welt führen.

Zünglein an der Waage könnten die Kurden sein

Wer auch immer der neue Premierminister der türkischen Republik wird – auf ihn wartet ein schweres Los. Oft genug unterstrich Erdoğan, daß er sich als Staatsoberhaupt keineswegs nur auf die zeremonielle Rolle beschränken will, sondern daß er sich in die großen Fragen der Tagespolitik einmischen und darauf bestehen wird, sie zu bestimmen. Umfragen zufolge liegt Erdoğan mit 52 bis 54 Prozent gut im Rennen. Seinen größten Widersacher, den gemeinsamen Kandidaten der beiden größten Oppositionsparteien der Türkei, der sozialdemokratischen CHP und der nationalistischen MHP, Ekmeleddin İhsanoğlu – ein ruhiger Intellektueller und damit ein Alternativentwurf zum populistischen, cholerischen Erdoğan – sehen die Meinungsforscher bei etwa 40 Prozent.

Zünglein an der Waage könnte der Kandidat der Kurdenpartei BDP Selahattin Demirtaş werden. Der 40jährige Rechtsanwalt steht derzeit bei 7,5 Prozent zu Buche, könnte aber mit seinem Werben um Wähler aus dem linken Spektrum und aus der Gezi-Protestbewegung erfolgreich sein und mehr als zehn Prozent erreichen. In diesem Fall wäre Erdoğans großes Ziel in Gefahr, schon im ersten Wahlgang gewählt zu werden.

Verfehlt Erdoğan die 50-Prozent-plus-Marke, reicht in einer Stichwahl am 24. August allerdings die einfache Mehrheit. Erdoğan würde dann vier Tage später in den Çankaya-Palast einziehen, der am 29. Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk eingeweiht wurde.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen