© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Geliebt, verhaßt, vergöttert
Gaza-Streifen: Im Konflikt mit Israel spielt die Hamas eine diffizile Rolle zwischen Terror und Kooperation
Marc Zöllner

Nach fast einem Monat erbitterter Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern gleicht der Gaza-Streifen einem Trümmerfeld. Das einzige Kraftwerk der zwei Millionen Einwohner umfassenden Agglomeration von gerade einmal der Größe Bremens ist bis auf die Grundmauern zerstört.

Von über 40.000 Häusern sowie Dutzenden Schulen und Moscheen blieben nach den Bombardierungen durch die israelische Luftwaffe und Artillerie lediglich Ruinen zurück. Die Kosten zum Wiederaufbau werden von lokalen Behörden mittlerweile auf rund sechs Milliarden US-Dollar beziffert.

Ägypten erscheint als neuer Verbündeter Israels

Auch humanitär steht der Gaza-Streifen vor einer Katastrophe: Bis Montag Abend zählte das palästinensische Gesundheitsministerium fast 1.900 Tote sowie rund 9.500 durch Kampfhandlungen Verletzte. Weit über 80 Prozent von ihnen waren Zivilisten. Über eine halbe Million Menschen, rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung, werden derzeit als interne Flüchtlinge gelistet.Allein 260.000 von ihnen haben sich in die 90 Bildungseinrichtungen des UN-Hilfswerks UNRWA geflüchtet, um Asyl zu finden. Was nicht immer nützt: Israelische Streitkräfte bombardierten in den letzten Tagen gleich drei dieser Gebäude; angeblich weil sich Terroristen in deren Nähe aufhielten. Dutzende tote Flüchtlinge waren die Folge, und selbst UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fühlte sich genötigt, die Angriffe als „moralische Greueltat und kriminellen Akt“ zu brandmarken.

Der Preis, den die Hamas für ihren dauerhaften Beschuß israelischer Städte mit Raketen zu zahlen hat – allein seit dem Ausbruch der neueren Kämpfe zählte die israelische Armee über 800 davon – ist immens, doch nicht unbeabsichtigt: Noch immer hofft Tel Aviv auf eine Revolte bürgerlicher Kräfte im Gaza-Streifen gegen die Herrschaft der militanten Islamisten, sollte sich dort der Gedanke durchsetzen, daß die Kosten eines bewaffneten Konflikts mit dem jüdischen Staat den Nutzen für die palästinensische Zivilbevölkerung massiv überwiegen.

Der Plan findet selbst im benachbarten Ägypten Anklang, welches seit der Wiederwahl Fatah as-Sisis zum neuen Verbündeten Israels avancierte. „Gaza muß gegen die Hamas revoltieren“, kommentierte Toufic Akasha, Besitzer des staatsnahen Fernsehsenders Faraeen TV, kürzlich in den Abendnachrichten. „Tun sie es nicht, dann verdienen sie es, zerbombt zu werden. Doch wenn die Gazaner sich gegen die Hamas auflehnen, wird Israel seine Bombardements einstellen, und die ägyptische Armee könnte das israelische Militär darin unterstützen, diese Terrorbewegung zu zerschlagen.“

Trotzdem sich gleich unter den ersten Zielen der israelischen Luftwaffe die Kommandantur der Hamas-Regierung sowie mehrere Kasernen befanden, riskierte Israel bislang weder die Liquidierung führender Politiker der Hamas noch den gewaltsamen Sturz der Regierung. Die Gründe dafür liegen für beide Seiten auf der Hand.

Spätestens seit seinem Wahlsieg von 2006 hat sich der Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft von einer reinen Terrororganisation zu einem ernstzunehmenden politischen Gegenspieler gewandelt – und seit seiner Verbrüderung mit der im Westjordanland herrschenden Fatah im Mai 2011 auch zum einzigen noch verbliebenen Verhandlungspartner im Gaza-Streifen. Die Verweigerung der Anerkennung des Existenzrechtes Israels als Staat, wie sie in der Hamas-Charta vom August des Jahres 1988 verankert war, ist nur noch Makulatur.

Radikalere Organisationen stehen Gewehr bei Fuß

„Wenn Israel sich darauf festlegt, sich mitsamt seiner Siedlungen aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland zurückzuziehen, wenn wir Jerusalem zur Hauptstadt haben und die Flüchtlinge heimkehren dürfen, dann haben wir unseren Frieden erreicht“, verkündete so auch der Vorsitzende des Politbüros der Hamas, Chalid Mashal, kürzlich im Interview mit dem US-Sender PBS die neue Doktrin seiner Partei. Überdies wächst in Israel die Angst, daß nach einer möglichen Niederlage der Hamas weit radikalere Organisationen dauerhaft im Gaza-Streifen Fuß fassen könnten.

Mit der Tötung ihres Kommandeurs Danyal Mansour Anfang dieser Woche sowie einem vereitelten Gefängnisausbruch von acht Inhaftierten aus der Hochsicherheitsanstalt Shateh rückte unter anderem die Terrorzelle des „Islamischen Dschihad“ erneut in den Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Bereits im Juni rief diese Zelle dazu auf, gezielt israelische Soldaten und Zivilisten zu entführen, um palästinensische Gefangene freizupressen. Mit rund 8.000 Bewaffneten sowie großzügigen Finanz- und Raketenlieferungen aus dem Iran sowie Nordkorea formiert sie sich zunehmend als Konkurrenz zur regierenden Hamas.

Mit der „Ansar al-Dawla al-Islamija“, den „Anhängern des Islamischen Staats“, gründete sich im Juni überdies erstmals ein Ableger der radikalsunnitischen ISIS im Gaza-Streifen. Daß sich eine Zerschlagung der Hamas durch die israelische Armee letzten Endes als Pyrrhussieg erweisen könnte, davor warnte kürzlich selbst der Chef des Militärgeheimdienstes der USA, Michael Flynn: „Sollte die Hamas komplett zerstört und weg sein, hätten wir am Ende vermutlich etwas viel Schlimmeres.“

Foto: Pro-Hamas-Demonstration in Nablus: Die Herrschaft der militanten Islamisten ist in Gaza nicht grenzenlos

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