© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

„Beweisen Sie, daß Sie ein Mann sind!“
Tour de France, Tour der Qualen: Athleten mit zerfetzten Waden, Betrügereien von Anfang an und das schönste Stadion der Welt
Lukas Steinwandter

Nicht rundes Leder, sondern rasende Räder: Während die deutschen Fußball-Stars einen Sieg nach dem anderen feierten, startete am 5. Juli in Leeds die 101. Auflage der Tour de France. In der Auftaktwoche dominierten zwei deutsche Fahrer das Feld und haben die Frankreich-Rundfahrt in eine „Tour d’Allemagne“ verwandelt. Erst gelangen dem Hünen Marcel Kittel gleich drei Siege in vier Tagen, dann sprintete das Muskelpaket André Greipel seinen insgesamt sechsten Etappensieg nach Hause.

Die Frankreich-Rundfahrt ist das größte jährlich stattfindende Sportereignis. Anläßlich der Jubiläumsausgabe im vergangenen Jahr erklärte Tourdirektor Christian Prudhomme stolz, das dreiwöchige Spektakel werde in 190 Ländern übertragen und von 3,5 Milliarden Fernsehzuschauern verfolgt. Das liegt neben der langen Geschichte und der sportlichen Rivalität auch daran, daß die Tour de France mehr ist als ein Radrennen. „Sie richtet sich ans kollektive Bewußtsein, schafft kulturelle Referenzen und geht weit über das sportliche Interesse hinaus. Sie spielt mit der Geographie und mit dem Territorium“, konstatierte der französische Historiker und Soziologe Georges Vigarello.

Die Tour entstand aus einem Marketingkniff

Dabei war die Tour de France aus der Not heraus geboren. Henri Desgrange, Herausgeber der Sportzeitung L’Auto, annoncierte zur Auflagensteigerung im Jahr 1903 ein Radrennen, das durch ganz Frankreich führen sollte. Für die Fahrer galt es, 2.500 Kilometer in sechs Tagesabschnitten zu bewältigen. Die rund 400 Kilometer langen Etappen führten über schlecht gepflasterte Straßen und dauerten oft bis in die Nacht. Während Kritiker in Henri Desgrange einen Verrückten oder gar Sadisten sahen, stieß die Rundfahrt bei den Zuschauern auf großes Interesse. Noch während des Rennens stieg die Auflage seiner Zeitung von 20.000 auf 65.000 Exemplare.

In Paris warteten Zehntausende auf die Ankunft der Sportler. Desgrange kreierte damit nicht nur das wichtigste Radrennen der Welt, sondern „schuf vor allem das größte Leidensfestival, das die Welt des modernen Athletentums zu bieten hat“ (Michael Klonovsky).

Leiden als Entfaltung der Willenskraft

Es ist die absonderliche Fähigkeit der Profis, sich über Wochen mehrere Stunden am Tag Schmerzen zuzufügen, die täglich Hunderttausende an die Strecke lockt. Und das im „schönsten Stadion“ der Welt. Eine Bergankunft in den Vogesen, Pyrenäen oder Alpen ist das Härteste, was die moderne Sportwelt zu bieten hat. Festina-Mannschaftsarzt Eric Ryckaert hielt 1998 fest: „Nach einer Bergetappe sind die Fahrer am Ziel dermaßen erschöpft, daß sie im medizinischen Sinne krank sind.

Als der spätere Sieger von 1905, Louis Trousselier, während einer harten Bergetappe den Tour-Vater Desgrange übel beschimpfte, antwortete der ihm aus seinem Begleitfahrzeug: „Leiden, Trousselier, ist die vollständige Entfaltung der Willenskraft. Beweisen Sie, daß Sie ein Mann sind!“ Auch dieses Jahr wird nach 3.663 Kilometern „Wettbewerbs im sinnlosen Leiden“ (Lance Armstrong) der Mann mit der größten Leidensfähigkeit herausdestilliert werden.

In Deutschland rümpft man derzeit allerdings die Nase, wenn von der „Tour der Leiden“ gesprochen wird. Nach den größten Dopingskandalen in der Sportgeschichte stellte das öffentlich-rechtliche Fernsehen 2007 die Direktübertragung ein. Ein rein deutsches Phänomen.

Betrogen wurde indes von Anfang an: Fahrer stiegen in Züge ein oder ließen sich von Begleitfahrzeugen ziehen. Noch bis in die sechziger Jahre hinein betäubten die Pedaleure ihre Schmerzen mit Cognac und Champagner, bis sich schließlich die Erkenntnis durchsetzte, daß man nüchtern doch etwas schneller fahre.

Die Methoden des Betrugs änderten sich, eines blieb allerdings über all die Jahre konstant: die Qual der Teilnehmer. Unvergeßlich bleibt der Kampf Pascal Simons, der 1983 mit einem gebrochenen Schulterblatt noch eine Woche lang das maillot jaune verteidigte, ehe er mit schmerzverzerrtem Gesicht und tränenden Augen aufgeben mußte.

Ebenso imposant Johnny Hoogerland, der 2011 mit einer zerfetzten Wade ins Ziel fuhr, nachdem ihn ein Begleitfahrzeug in einen Stacheldrahtzaun rammte. Die Schnitte mußten mit 33 Stichen genäht werden. Am 27. Juli werden die Könige des Sattels abermals auf den Pariser Champs-Élysées ankommen und fortan ein Übermenschen-Zertifikat tragen.

www.letour.fr

Foto: Die etwas andere Fahrradtour durch Frankreich: Kämpfen, alles geben und das Letzte aus sich herausholen

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