© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Der Schönheit nachstreben
Gestaltungswille: Die Mathildenhöhe Darmstadt zeigt eine Ausstellung über die Künstlerkolonie von 1914
Karlheinz Weissmann

Am 16. Mai 1914, keine drei Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde die letzte Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie eröffnet. Sie stand wie die früheren unter dem Patronat Ernst Ludwigs von Hessen und bei Rhein. Der Großherzog gehörte zur langen Reihe kunstsinniger Landesherren der deutschen Klein- und Mittelstaaten und hatte seit 1899 mit dem Aufbau der Künstlerkolonie versucht, nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung anzuregen, sondern auch ein dem Geist der Jahrhundertwende verpflichtetes Gesamtkunstwerk zu schaffen.

Auf der Mathildenhöhe kann man dessen Reste heute noch bestaunen, als Ergebnis der Verknüpfung aus Architektur, bildender Kunst, Kunstgewerbe und Gartengestaltung. Von dem Eindruck, den ein Besucher 1914 gewann, ist allerdings vieles verschwunden. Aber die Skulpturen, Plastiken und Textfelder des Platanenhains von Bernhard Hoetger (1874–1949) sind noch zu bewundern, ebenso wie Friedrich Wilhelm Kleukens’ Mosaik „Kuß“, dessen Sonnenuhr und Portalschmuck am Hochzeitsturm des Hauptgebäudes oder Albin Müllers Lilienbecken, Mosaiknische und „Schwanentempel“. Anderes wurde versetzt, vieles im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Luftangriffe zerstört; das gilt vor allem für die dreigeschossigen Wohnhäuser, die einmal die Bekrönung des Geländes bildeten.

Es war insofern ein guter Gedanke, die aktuelle Ausstellung der Mathildenhöhe, die der Erinnerung an die große Leistungsschau der Künstlerkolonie von 1914 dient, mit einer virtuellen Rekonstruktion beginnen zu lassen, bei der dem Betrachter in einem Film vorgeführt wird, was einmal zu sehen war. Wie im Flug gleitet man über das imposante Löwentor hinweg, in Richtung auf den Platanenpark und die Zentralgebäude, die schon älteren repräsentativen Villen im Jugendstil und die sachlicher gehaltenen Arbeiterhäuser.

Um einen vollständigen Eindruck zu gewinnen, kann man sich dann in die einzelnen Abteilungen des Ernst-Ludwig-Baus begeben, weil hier das Bild noch einmal ergänzt wird um Gemälde, Mosaiken und Plastiken, die Entwürfe von Möbeln, Geschirr, Kleidung, anderen Textilien und Schmuck sowie Aufnahmen, die wenigstens einen gewissen Eindruck von den neuen Ausdrucksformen in Tanz und rhythmischer Bewegung vermitteln.

Im Zentrum stehen die Entwürfe und Werke von Hoetger, Müller und Kleukens sowie Emanuel Josef Margold, Arnold Mendelssohn und Heinrich Jobst. Ihnen allen war – in unterschiedlichem Maß – die Fähigkeit eigen, auf mehr als einem Gebiet schöpferisch tätig zu sein, wobei sich das Tun fast zwangsläufig mit bestimmten weltanschaulichen Vorstellungen verknüpfte. Auch das gehörte zum Konzept des Gesamtkunstwerks und sprach für einen umfassenden Gestaltungswillen, der keinen Bereich auslassen wollte, erklärt die Orientierung der einen an klassischen Mustern (die Plastiken von Jobst etwa) wie die Bereitschaft der anderen, sich avantgardistischen Konzepten (Abstraktion und Expressivität bei Hoetger) zu nähern oder an Modeströmungen (dem Neo-Rokoko in den Bildern von Hanns Pellar zum Beispiel) auszurichten. Alles diente dazu, „einer Schönheit nachzustreben, die unser Leben erhöht“, um einen Satz des damaligen Katalogs zu zitieren.

Sehnsucht nach Erneuerung und Harmonie

Die Ausstellung von 1914 war die letzte der Künstlerkolonie nach denen von 1901, 1904 und 1908. Wenn daran heute auf der Mathildenhöhe erinnert wird, dann auch um deutlich zu machen, von welchem Optimismus die Atmosphäre der Vorkriegszeit bestimmt sein konnte. Was sich hier aus der Verknüpfung von Lebensreform und Neuidealismus ergab, hatte nichts mit Dekadenzgefühl oder Untergangserwartung zu tun, war vielmehr geprägt von der Sehnsucht nach Erneuerung und Harmonie. Bei der Eröffnung am 16. Mai führten die Schülerinnen von Elizabeth Duncan – etwas weniger bekannt als ihre Schwester Isadora – mit den Mitteln des Ausdruckstanzes ein Festspiel auf, das der Schriftsteller und Kabarettgründer Ernst von Wolzogen (1855–1934) geschrieben hatte. Der Text war in Duktus und Wortwahl ganz von den Ideen Nietzsches durchzogen, von der Trauer über den „toten Pan“ war da die Rede, aber auch von dem „heiligen Mutterschoß der Wunderhüterin Erde“ und dem „Lied vom heimlichen Sehen der Kreatur ans Licht“.

Das Pathos dieser Sprache ist uns heute fremd, genauso wie viele Ausdrucksformen der Zeit. Aber manches ist uns auch überraschend vertraut, entspricht ästhetischen Empfindungen oder Sehnsüchten der Gegenwart. So groß der zeitliche Abstand wirken mag – größer als die Zahl der Jahre jedenfalls –, die Kunst und nicht nur die Kunst im engeren Sinn dieser Vergangenheit hat uns durchaus noch etwas zu sagen.

Die Ausstellung „Dem Licht entgegen – Die Künstlerkolonie-Ausstellung 1914“ ist bis zum 14. September im Museum Künstlerkolonie, Institut Mathildenhöhe Darmstadt, Olbrichweg 15, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 061 51 / 13 33 85

Das Katalogbuch mit 50 Seiten und Beiträgen zu den Hauptthemen sowie zahlreichen Abbildungen kostet 5 Euro. www.mathildenhoehe.eu

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