© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Pankraz,
M. Matussek und das Zweikammersystem

Aus der Masse der veröffentlichten Glückwünsche für Angela Merkel zu ihrem sechzigsten Geburtstag ragt einer scharf hervor: der von Matthias Matussek, langjähriger Kulturchef des Spiegel und heute Kommentator der Welt. Es ist nicht nur ein ziemlich hemmungsloser Lobgesang auf das Geburtstagskind, wie er seit Johannes R. Bechers Versen für Väterchen Stalin wohl nicht mehr in deutschen Feuilletons vorgekommen ist, sondern der Absender verstrickt sich darin auch in komplizierte philosophische Fragen, die nach Auslegung und Kommentar geradezu schreien.

„Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin“, schreibt Matussek, „tun, was nötig ist. Ausgreifende Masterpläne und Visionen sind nicht Ihr Ding, das überlassen Sie den Feuilletonisten. Gerade die neigen ja zum schwärmerischen oder apokalyptischen Vorgriff auf die Zukunft, auf den idealistischen Triumph oder die katastrophische Verdüsterung, kurz, zu seelischen Zügellosigkeiten. Diese sind wichtig, sie sind Treibstoff der Kunst. Aber sie sollten nicht auf die Politik übergreifen.“

Hier also „die Politik“, die tut, „was nötig ist“, da „das Feuilleton“ (Kunst, Literatur, Musik) mit seinen „seelischen Zügellosigkeiten“ – so bieder und übersichtlich möchte der Gratulant Matussek die Welt geordnet sehen, dafür soll ihm die Bundeskanzlerin Garant sein. Er schwärmt von einem sozialen „Zweikammersystem“, in dem Politik und Feuilleton lupenrein und ein für allemal voneinander getrennt wohnen – und beruft sich dabei auf Nietzsche.

Schon Nietzsche habe von den beiden Kammern geschwärmt, dem „Dionysischen“, wo die Sachen „aufgeheizt“, und dem „Apollinischen“,wo sie „runtergekühlt“ würden. „Sie, Frau Bundeskanzlerin, fühlen sich für das Runterkühlen zuständig, und sie machen es fabelhaft.“ Angela Merkel also als Inkarnation des Apollinischen im Macht- und Geisteskonzert der Gegenwart, ja bei Lichte betrachtet als Apollo höchstpersönlich, Gott des Formwillens und der Welt, wie sie sein soll.

Um der historischen Genauigkeit willen wäre dazu zunächst anzumerken, daß Nietzsche nie von der Politik als einer Extrakammer zum „Runterkühlen“ gesprochen hat. Alle seine Ausführungen zum Verhältnis von Dionysos und Apollo betrafen genuin ästhetische Gegenstände, kreisten um Schöpfertum, Rausch und die Geburt der Schönheit. Was die Politik betrifft, war er keineswegs für Abkühlung, im Gegenteil. Sein Idealbild eines Politikers schloß Charisma und Entscheidungsfreude durchaus ein. Mit Gestalten wie Merkel hätte er kaum etwas anfangen können.

Doch es braucht gar nicht die Erinnerung an Nietzsche, um den politischen Stil der gegenwärtigen Bundeskanzlerin kritikabel zu finden. Gerade die von Matussek an ihr so gepriesene „Physikermentalität“ gibt zu Sorgen Anlaß: die Ausschaltung des subjektiven Faktors aus der Politik, der oft bezeugte Glaube an Systemzwang und Alternativlosigkeit, wo angeblich alles von selbst läuft, weil es ohnehin nur noch digitale Netzwerke gibt und es völlig gleichgültig ist, ob sie von Algorithmen oder von lebendiger menschlicher Intelligenz gesteuert werden.

Man gebe sich keinen Illusionen hin! Die deutsche Bundeskanzlerin steht zwar im Augenblick blendend da, die geopolitische Lage ist ihr günstig, sie gehört sämtlichen einschlägigen Erhebungen zufolge – zusammen mit Obama, Putin, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem Papst – zu den fünf mächtigsten Menschen der Welt. Aber das Land, dem sie vorsteht, befindet sich in einer ernsten Krise, und nicht zuletzt sie selbst ist dafür verantwortlich. Sie führt dieses Land nicht, sondern läßt es treiben. Ihr geheimes Motto scheint tatsächlich zu lauten: „Nach mir die Sintflut.“

Gewaltige, völlig unqualifizierte Immigrantenströme und riesige Transfersummen zur Rettung des Euro belasten die ökonomische wie die soziale Struktur des Landes, und faktisch nichts wird von der Merkel-Regierung dagegen getan. Es gibt einen flächendeckenden Niedergang der wissenschaftlichen und moralischen Standards, Herrschaft des Pöbels und der Gemeinheit allenthalben; der von Matussek annoncierte „Treibstoff der Kunst“, der zwar „wichtig“ sei, doch „nicht auf die Politik übergreifen sollte“, entpuppt sich als pure Nichtigkeit – und greift gerade deshalb auf die Politik über.

Was Matussek nicht zu wissen scheint, ist bei seinen Kollegen vom Feuilleton schon längst als billigste Kurrentmünze in Umlauf: Sein geliebtes Zweikammersystem (hier Politik, da Kulturbetrieb, und beide haben nichts miteinander zu tun) ist reine Fiktion. Politik und Geistesleben hängen eng zusammen, spiegeln sich ineinander, beeinflussen sich gegenseitig. Wer das ignoriert, sei er nun Geburtstagskind oder Gratulant, kann viel Schaden anrichten, und vielleicht am meisten schadet er sich selbst, macht sich schnell lächerlich.

Wie schrieb Matussek in seinem Glückwunschbrief? „Die Kunst schwelgt, wie Sie als Wagner-Bewunderin wissen, gerne in Extremzuständen, während die Politik das Gewöhnliche und den Kompromiß zu verteidigen hat.“ Was den Kompromiß betrifft, kann man den Satz (mit Einschränkungen) unterschreiben, was das Gewöhnliche betrifft, nicht. Gute Politik verteidigt grundsätzlich nicht das Gewöhnliche, sondern das möglichst Exzellente. Sie ist, wie Bismarck einst feststellte, selber eine Kunst, und wer das als Politiker ignoriert, beschädigt nicht nur die Politik, sondern die Kunst im ganzen.

Nietzsche war in seiner Frühzeit ganz dem Dionysischen zugeneigt und feierte es als großen Sieger über das Apollinische, das er für langweilig hielt. Später ging ihm auf, daß Dionysos und Apollo keine Gegner, sondern Verbündete waren. Diogenes war der Energiespender, er lieferte die Lava, die der zuchtvolle Formwille des Apollo durchdrang und in erquickliche Bahnen lenkte. Beide hatten sich zusammengetan, um Träume in göttliche Wirklichkeit zu verwandeln. So sollte es eigentlich auch zwischen Kunst und Politik zugehen.

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