© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Was vom Kriege übrigblieb
Politik trifft auf Geschichte: Der Erste Weltkrieg ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen kaum mehr verankert / Dabei sind seine Folgen noch immer in aktuellen Konflikten spürbar / Eine historische Spurensuche auf dem Balkan und im Nahen Osten
Günther Deschner

Aufstände und Bürgerkriege; Despoten, Terror und Militärdiktaturen, fremde Interventionen. Araber und Juden, Turkmenen, Drusen und Kurden. Zerstrittene Sunniten, Schiiten und Alawiten, und dazwischen Christen und uralte Sekten. Streit um Grenzen, um Öl und Wasser, um „heilige Stätten“, Kampf um Identität. Aus dem, was einmal ein „orientalisches Märchen“ gewesen sein soll, ist längst eine Tragödie geworden. Und daran sind nicht nur die orientalischen Streithähne schuld – sondern zu einem Gutteil auch die Demokratien des Westens, vor allem England, Frankreich und die Vereinigten Staaten.

Der Irak ist dafür ein anschauliches Beispiel: Vor unseren Augen zerfällt ein reiches Land auf blutige, unübersichtliche Weise. „Wäre George W. Bush bloß nicht in den Irak eingefallen“ und „hätte Barack Obama den Irak bloß nicht verlassen“: Diese Klagen sind heute oft zu hören.

Doch die Dauerkrise im Zweistromland reicht noch viel weiter zurück. Denn der moderne Irak ist von Anfang an ein künstliches Gebilde. So wie das heutige Syrien, der Libanon, Saudi-Arabien und andere Golfstaaten wurde auch das Königreich Irak, aus dem die heutige Republik Irak geworden ist, erst im und nach dem Ersten Weltkrieg von ein paar Kolonialphantasten in London und Paris ersonnen und geschaffen. Die Grenzen der neuen Staaten – sie sollten Vasallen Englands beziehungsweise Frankreichs sein – wurden mit Zirkel und Lineal gezogen. Und sie zerrissen gewachsene Bindungen, Stämme, Völker, Religionsgemeinschaften und kulturelle Traditionen.

Das, was als „neue Ordnung“ gedacht und zur andauernden Unordnung geworden war, wirkt sich bis heute in fataler Weise aus. An der Dauerfehde zwischen den Volksgruppen im Irak zum Beispiel ist vor allem die willkürliche Grenzziehung schuld, durch die zusammengewürfelt wurde, was nie zusammengehört hatte und nie zusammengehören wollte: Sunniten und Schiiten auf der konfessionellen, Araber und Kurden auf der ethnischen Ebene.

Die irakische Politik wird seit der Staatsgründung 1921 und der Aufnahme in den Völkerbund (1932) von zwei Hauptfaktoren geprägt, dem Reichtum an Erdöl samt den daraus folgenden Begehrlichkeiten und Interessen fremder Staaten (des Westens und lange Zeit auch Rußlands) sowie den ethnisch-religiösen Unterschieden der drei Landesteile, die den ehemaligen osmanischen Provinzen Mossul, Bagdad und Basra entsprechen. Eine gemeinsame nationale Identifikation der drei großen Bevölkerungsgruppen Schiiten, Kurden und Sunniten kam nie zustande. Dieser Mangel ließ Platz für Gewaltherrschaft, radikalislamische Machtbestrebungen und fremde Interventionen.

Bis zum Sturz Saddams betrachteten die regierenden Sunniten den Irak als „ihren“ Staat, nach Abzug der Amerikaner machte und macht es der Schiit Nuri al-Maliki unter anderen Vorzeichen genauso. So abstoßend das Dilemma auch ist, so sehr es von heutigen Politikern und Experten westlicher Staaten kritisiert wird: Ganz unschuldig ist der Westen daran nicht.

Nahost-Experten, die die immer aufs neue aufbrechenden inneren Verwerfungen des Iraks genauso wie die Bürgerkriege Syriens und des Libanon auf die unselige Rolle der Europäer zurückführen, können sich auf das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom Mai 1916 berufen, das als das Haupt- und Gründungsdokument der europäischen Nahost-Panne mit fataler Langzeitwirkung gilt.

François Georges-Picot, der französische Konsul in Beirut, und der britische Diplomat Sir Mark Sykes hatten sich bereits 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, darüber verständigt, wie man die mehrheitlich arabisch und teils auch kurdisch besiedelten Gebiete des zerfallenden Osmanischen Reichs (das heutige Syrien, Irak, Jordanien. Libanon, Israel und Palästina) nach dem Krieg aufzuteilen gedachte. Frankreich sprach sich Damaskus, die Mittelmeerküste und ihre Anrainer zu, Großbritannien reservierte sich Bagdad, Basra, Amman und noch einiges mehr.

Picot und Sykes konnten sich das großzügige Verteilen des Fells des osmanischen Löwen auch deswegen leisten, weil das zaristische Rußland dem Ganzen zugestimmt hatte – und selbst Interessen in der Region verfolgte: Wollten sich Briten und Franzosen die ganze Region vom Mittelmeer bis an die persische Grenze unter den Nagel reißen, bekam im Gegenzug der russische Zar die Kontrolle über den Bosporus und die Dardanellen, sowie die armenischen Gebiete des Osmanischen Reichs in Aussicht gestellt. Doch nach der Oktoberrevolution 1917 gab es keinen Zaren mehr, und das nun bolschewistische Rußland wurde aus weiteren Verteilspekulationen der westlichen Demokratien erst mal gestrichen. Lenin, der neue „rote Zar“, veröffentlichte daraufhin das Geheimabkommen im November 1917 in der Prawda.

Machenschaften zum Nachteil anderer Völker

Weiterer Ausgangspunkt der britischen Nachkriegspolitik war das Versprechen, das der britische Nahostkenner und Geheimagent Thomas Edward Lawrence („von Arabien“) 1916 dem Emir von Mekka gegeben hatte: Rasch zu einer Schlüsselfigur des arabischen Aufbegehrens gegen die mit dem Deutschen Reich verbündeten Osmanen avanciert, versprach Lawrence den Haschemiten ein „Königreich“ – als Dank für einen arabischen Aufstand. Dabei stand doch schon damals fest, daß der arabische Raum nach dem Krieg laut Sykes-Picot in britische und französische Einflußzonen geteilt werden sollte.

Immerhin gelangten zwei Söhne der Haschemitenfamilie aus Mekka tatsächlich auf einen Königsthron: Faisal I. wurde 1921 von den Briten auf den Thron des neugeschaffenen Königreichs Irak gesetzt, sein Bruder Abdallah I. stieg zum König Transjordaniens, des heutigen Jordanien, auf. „That’s politics“, kommentierte viele Jahre später Winston Churchill solche Machenschaften zum Nachteil anderer Völker und Staaten, an denen die Nahost-Region bis heute krankt.

 

Konfliktgebiete

Ex-Jugoslawien

Von 1992 bis 1995 herrschte in Bosnien-Herzegowina Krieg. 1999 spitzten sich die ethnischen Konflikte im Kosovo zu. In beiden Regionen war bzw. ist die Bundeswehr seit 1996 an internationalen Missionen beteiligt.

Naher Osten

Seit 2011 herrscht in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg. Der Irak zerfällt weiter, Teile werden von islamistischen Terrormilizen beherrscht. Und Israel hat mittlerweile eine Bodenoffensive gegen die Hamas im Gaza-Streifen gestartet.

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